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Paravion

Paravion

Titel: Paravion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: bouazza
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das mal einem Arzt im weißen Kittel klarzumachen.
    Und daß der gelehrte Doktor sich die Mühe mache, seine Sprache zu begreifen? Pah! Dies war das Leitmotiv in den Monologen des Teppichhändlers.
    »Und die Sprache von den Leuten hier«, sagte er jetzt, »so redet doch kein Mensch! Das klingt doch wie das Krächzen und Pfeifen von Vögeln!« Er war ein vortrefflicher Imitator, und das ganze Teehaus lachte. Er verschluckte sich an einem Efeublatt, das sich gelöst hatte, und spuckte murrend eine kleine verdreckte Schlammpfütze auf den Boden. »Erinnert euch später an meine Worte: Eines Tages werden alle hier unsere Sprache sprechen.«
    Draußen näherte sich langsam das Gebimmel von Schafglöckchen. Der alte Schäfer trieb seine Herde von den grünen Tälern nach Hause, um seinen Nachmittagstee zu trinken. Eine Schattenlivree aus roten und grünen Tupfen bedeckte noch Hände und Gesicht und das Fell der Tiere.
    Etwas stimmte nicht mit ihm. Er wollte etwas rufen, aber alles, was er hervorbrachte, war ein quietschendes Pfeifen. Als er ins Teehaus gestolpert kam, sahen die anderen, was los war: Dem Schäfer war die Flöte im Hals steckengeblieben. Er war ganz blaß, zitterte und ruderte wild mit den Armen. Der arme Mann war am Ersticken.
    Alle drängten sich um ihn. Nur der Karrenlenker blieb sitzen.
    Nachdem sie den Schäfer von der Flöte befreit hatten, stammelte dieser: »… Zwei… zwei Frauen… ich hab’ zwei Frauen gesehen…«
    Die Männer warteten gespannt ab. Was für Frauen denn? In Paravion wimmelte es nur so von Frauen. Hatten sie ihm etwas angetan? Nein, nein, der Schäfer schüttelte den Kopf, die Augen weit aufgerissen: »Zwei moreanische Frauen.«
    Entsetzen riß die Münder der Männer auf. Zwei Frauen aus Morea? Hier in Paravion?
    Der Schäfer nickte und fiel in Ohnmacht. Die Männer schrien auf, rannten voller Panik durcheinander, rempelten sich gegenseitig an, schlugen sich auf die Wangen, rissen an den Kragen ihrer Gewänder, stürzten auf die Knie und lagen zuckend am Boden. Zu allem Überfluß fiel dann auch noch das Schild von der Hausfassade. Danach kamen sie erschöpft zur Ruhe.
    »Nein«, antwortete der Karrenlenker, von der Taubheit mitnichten genesen, »es hat noch nicht geklappt.«
    Linien und Sicheln, Linien und – der Karrenlenker spazierte gerne und lange durch Paravion. Er hatte ein rundes, rotfleckiges Gesicht, ein einnehmendes Lächeln, von äußerst elastischen Wangenmuskeln hervorgebracht, und liebenswerte Augen. Verständlich, daß er in seinem vorigen Leben und Werk die Krähen nicht verscheucht, sondern geradezu angelockt hatte. Er war glücklich in seiner watteweichen Taubheit. Dabei war es nicht so, daß er gar nichts hörte, sondern es war ihm nur unmöglich, das, was er hörte, in Einklang zu bringen mit dem, was er sah. Sein Gehör war noch voll mit den Geräuschen der Vergangenheit: Frauengelächter, dem Klirren von Armbändern, dem Zuckeln und Rütteln des Karrens.
    Die Betriebsamkeit von Paravion war verstummt. Die Sonne erschien und verschwand wieder, so daß die Menschen von einer Dimension in die andere zu wechseln schienen. Einen Augenblick lang waren die Wolken silbrig, und ein mattes Gold legte sich über die Menschen, die doch gleich wieder grau wurden, zur Dämmerung zurückkehrten, von der sie sich offensichtlich nicht trennen konnten. Ohne sein Schrittempo zu mäßigen, schlängelte er sich durch die Menschenmenge hindurch und blieb ab und zu – Grundig, Telefunken, Sanyo –
    vor einem – Adidas, Coq Sportive, Lacoste – Schaufenster stehen, um die Markenprodukte zu betrachten, von denen man in Morea nur träumen und reden konnte. Sobald er seine Einkünfte geregelt haben würde, wollte er sich einen Fernseher, am liebsten einen Grundig, und eine Satellitenschüssel anschaffen. Alle Männer aus dem Teehaus hatten bereits Schüssel und Fernseher, diese beiden Dinge schaffte sich jeder Neuankömmling immer zuerst an. Die Satellitenschüssel war die Nabelschnur zum Vaterland. Reiner Kult.
    Er erreichte, zusammen mit der Sonne, einen Platz, auf dem ein Palast stand und Straßenkünstler ihre Künste zeigten.
    Feuerspucker, Zauberer, Akrobaten, Clowns, Musikanten, Taubenfutterverkäufer, Marionetten-und Puppenspieler,
    Pantomimen, mit Kunstblumen geschmückte Zwitterwesen in exzentrischen Gewändern aus übermaltem Plastik und Aluminiumfolie, ein Geschichtenerzähler und lebende Standbilder. Die letzten rangen dem Karrenlenker große Bewunderung ab. Er

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