Paravion
stimmte. Er blieb stehen und zwinkerte ihr mit schiefem Lächeln zu. Sie sah ihn prüfend an: So viel Blödsinn könne doch nicht in so einen kleinen Schädel passen, dachte sie sich.
Etwas in ihr kochte langsam hoch, doch sie schwieg. Deshalb zwinkerte er nochmals. Er wollte damit ausdrücken, daß er nicht nach Fleisch schnappe, wenn er nur den Schatten sehe.
Sie wich einen Schritt zurück. Ein ganzes Sonnensystem explodierte vor seinen Augen, als sie ihm in seine Samendatteln trat. Er sackte zusammen, Übelkeit höhlte seinen Magen und würgte ihn, bevor er mit aufgerissenem Mund die Luft literweise trank. Sie warf den Kopf zurück und ging davon, während er langsam wieder zu sich kam.
Als er wenig später bei dem ihm so wohlvertrauten Brunnen die Hose wusch, weinend, wie er es seit den tränenreichen Kindertagen nicht mehr getan hatte, verfluchte er seinen Schließmuskel, seinen Vater, seine Mutter, seine Hochzeit, das Leben und die Welt, in der er lebte. Dieses Flittchen! Und er verfluchte auch die Schwalbe, die ihn umkreiste. Er hatte genug. Er stürzte sich in den Brunnen.
Das Mädchen ließ sich vornüber auf Baba Baluk sinken und hörte das wilde Wummern seines Herzens. Er drückte sie an sich, doch sie löste sich aus seiner Umarmung. »Du wirst besser«, sagte sie, »doch in den anderen Stellungen hapert’s noch gehörig. Du bist vorn zu brustlastig und hinten ein Leichtgewicht. Umgekehrt muß es sein.« Ihr warmer Atem roch nach Süße, und ihre Lippen waren klebrig, als ob sie gerade an einem Eis geleckt hätte.
Er nickte unter Keuchen und streichelte ihre Wange. »Und«, fuhr sie fort, »dein Schweiß stinkt nach nassem Fell.«
»Das stimmt«, sagte er, »ich wurde mit der Milch einer Hündin gestillt.«
Sie stand auf, und er ging zum Bach, um sich zu waschen.
Die Knie des Mädchens waren zerschrammt, und es sickerte schwarzes Blut aus den Wunden. Danach überprüfte sie den Inhalt ihrer Schüssel und nickte zufrieden. »Mein lieber, lieber Baba Baluk«, flüsterte sie ihm zu, der schon wieder aus dem Bach gestiegen war, und setzte sich neben ihn. Sie legte seinen Kopf auf ihren Schoß. Ihr Mund und ihre Handflächen waren schweißnaß und klebrig, ein süßlicher Geruch ging von ihr aus.
Die Ziegen schliefen, und Stille herrschte. Als er seine Augen öffnete, war alles von einem fahlblauen Schleier bedeckt, einer sich schnell auflösenden Haut. Auf seinem nackten Rücken hatten die Steine ein Gewirr roter Abdrücke hinterlassen, Linien und Sicheln.
Der Fischer zog seine Netze voller Fische und Leichen ein.
Weiße Eulen umflatterten ihn wie Irre im Niemandsland zwischen Morea und Paravion. Ein alter und wahrer Glaube besagt, daß die Seele des Menschen sich in eine Eule verwandle, die dem Schädel der Leiche entspringe. Wer überlebe, bekomme in Paravion eine neue Seele. Mißmutig schüttelte der Fischer den Kopf. Na ja, dachte er, immerhin hatten die Fische durch den Proviant der untergegangenen Reisenden reichlich Futter – und Teppiche, auf denen sie schlafen konnten. Er war verbittert. Schon vor langem hatte er aufgehört, die Leichen zu begraben, und auch diese hier gab er den Wogen zurück, die gierig danach schnappten. Er stopfte sich eine Haschpfeife, nahm einen Zug und brach Richtung Teehaus auf.
Heira kam, auf ihren Krummstab gestützt, in der Hitze der weißen Siesta mit der toten Cheira an ihrer Seite nur mühsam vorwärts. Vor ihr flimmerte die Fata Morgana, die sie betrat, als zwänge sie sich durch einen Tanz durchsichtiger Schleier.
Dort starb sie.
Die Torwächter von Paravion waren vor den Stadtmauern eingeschlafen. Auf dem Erdwall saßen Tausende von Eulen, denen der Zugang verwehrt worden war. Der Himmel war bewölkt. Die untersten Wolkenschichten dräuten mit Regen und versprachen Aufheiterungen in den Schaumkronen. Man mußte auf alles gefaßt sein im launigen, lieben und teuren Paravion.
III
1
Hör zu.
»Hatscha!«
Und nochmal: »Hatscha!«
Das ist schon besser. Noch nicht perfekt, aber besser, viel besser. Er macht Fortschritte.
Das ist Paravion – siehe, seine Minarette sind schon zu erkennen. Stolz wie erhobene Mittelfinger erheben sie sich zenitwärts und lassen die demutsvoll hingekauerten Kirchtürme hinter sich. Noch höhere Minarette waren bereits im Bau, und die allerhöchsten wurden gerade entworfen. Nicht mehr lange, so lautete ein Gerücht im Teehaus, und alle Kirchen werden sich in Moscheen verwandeln. Das sei nur eine Frage der Zeit, sagte
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