Parrish Plessis 01 - Nylon Angel
her rennen und aufspringen, um einen näheren Blick auf das Bild zu werfen, doch ein Polizeifahrzeug folgte unmittelbar im Anschluss wie ein übergroßer Tausendfüßler mit genauso vielen Augen wie Beinen. Instinktiv bückte ich mich, als hätte ich etwas fallen lassen, und verbarg mich rasch hinter einem öffentlichen Com-Automaten.
Die Polizei filmte die Straßen fast ununterbrochen. Die Bilder wurden dann mit ID-Programmen gefiltert, um Leute wie mich zu finden. Es war eine völlig wahllose Methode, aber gerade das machte sie so gefährlich.
Als das Fahrzeug vorüber gefahren war, traf ich eine Entscheidung. Mit jeder Minute, die ich mich länger hier aufhielt, wuchs die Gefahr, entweder von Daac und seinen Freunden entdeckt zu werden, oder in die Fänge der Polizei zu geraten. Ohne zu zögern, stieg ich in den nächsten Intracity-Zug und fuhr in die Nordstadt.
KAPITEL DREIZEHN
Dem Stadtplan entnahm ich, dass sich die M’Grey Island Marina hundert Klicks vom nächsten Fluss und dem Meer entfernt befand. Man hatte ein großes Becken ausgehoben und dort Wasser hineingeleitet, das man künstlich gefärbt hatte, damit es im schönsten Blau glitzerte.
Die Insel wurde von knapp zweihundert Kanälen durchzogen, umgeben von einem See, der groß genug war für nachmittägliche Vergnügungsfahrten und passionierte Angler. Allerdings war der See nur für die Inselbewohner zugänglich. Hohe Betonmauern am Ufer machten es unmöglich, von der Landseite her auf das Gewässer zu gelangen. Das gab den nervösen Reichen die Sicherheit, nach der sie verlangten. Die Adresse Circe Crescent 18 befand sich in der Mitte der Insel, wo die Kanäle sehr eng wurden und größtenteils private Wasserwege waren.
Ich verließ den Zug einige Haltestationen früher und legte den Rest des Weges zu Fuß zurück – nur für den Fall, dass mich bereits jemand erwartete. Abgesehen von den Polizei-Fahrzeugen hatte ich keine Kontrollen entdecken können, und genau das machte mich nervös.
Auf dem Weg in die Nordstadt hatte ich Bras’ Gesicht zwei weitere Male in einer One-World Anzeige gesehen: zuerst auf einer schwebenden Anzeigenwand und danach auf einem gigantischen Schirm vor dem Gebäude der Viva Bank unmittelbar neben König Ban höchstpersönlich. Das gab mir die Hoffnung, dass sie noch am Leben war, aber die vielen Fragezeichen um ihren Verbleib und ihren Zustand bereiteten mir Kopfzerbrechen. Vielleicht brauchte sie meine Hilfe nicht mehr, doch sobald ich meinen Auftrag erledigt hatte, würde ich mich um sie kümmern.
In Gedanken versunken ging ich zielstrebig weiter, als würde ich den Weg kennen, doch in Wahrheit bereitete mir etwas anderes Sorgen: Im inneren Kreis der Stadt benutzten die Leute ihre privaten Fortbewegungsmittel. Wenn man einfach durch die Straßen wanderte, lief man Gefahr, von einer versteckten Kamera gefilmt zu werden.
Ich ging in einen mobilen Nachrichtenstand, das Gesicht von den Bedienungs-Rezeptoren abgewendet. Es war ein recht teurer Stand, mit hundert oder mehr Bildschirmen – M’Grey war wirklich eine stinkvornehme Gegend.
»Welche Nachrichten wünschen Sie? One-World? Offworld? Tabloid? Oder die allgemeinen Meldungen?«, fragte das Bedienelement in gedehntem, akzentuiertem Tonfall. Welcher bekannte Nachrichtensprecher hatte hier wohl als Vorbild gedient?
»Ich stöbere nur ein wenig herum«, murmelte ich sorgfältig darauf bedacht, meine Stimmlage ständig zu variieren für den Fall, dass der Stand abgehört wurde.
In regelmäßigen Abständen liefen die Schlagzeilen über die verschiedenen Kanäle. In allen Meldungen tauchte ein Bild von Bras auf, begleitet von einer Sprecherstimme, die König Ban für seine Menschenliebe lobte, weil er das Straßenkind in die königliche Familie von Viva aufgenommen hatte.
Bras? Ein Mitglied der königlichen Familie? Das musste eine verrückte Inszenierung der Medien sein, um die Einschaltquoten in die Höhe zu treiben. Warum sollte König Ban ein Straßenkind aus dem Tert adoptieren?
Wenn nicht gerade Bras’ Gesicht über die Bildschirme flimmerte, war es das meine. Ich hasste es zuzugeben, aber Daac hatte Recht gehabt: Wenn ich meine typische Frisur und meinen Nylon-Anzug behalten hätte, würde ich mich jetzt mit Sicherheit bereits im Knast befinden. Meine Statur war viel zu auffällig. Ich hätte genauso gut in grellen Neonfarben leuchten können. In dem Aufzug, den ich momentan trug, konnte man mich zumindest für einen Bürger von Viva
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