Partials 1 – Aufbruch
eintreten. Ich denke, es ist das Risiko wert.«
»Ein solches Gespräch führe ich nicht mit einem Seuchenbaby«,
knurrte Skousen. »Als uns die Partials angriffen, waren Sie noch nicht einmal
alt genug, um die Ereignisse zu begreifen. Sie mussten nicht zusehen, wie eine
kleine Gruppe dieser Wesen eine ganze Armeebrigade zerlegte. Sie mussten nicht
zusehen, wie die Menschen dahinschwanden, Blut erbrachen und im Fieber bei
lebendigem Leib zerkochten.«
»Ich habe meinen Vater verloren …«
»Wir haben alle unsere Väter verloren!«, brüllte Skousen. Kira
erbleichte, als sie die Worte hörte, und wich vor dem Mann zurück, der auf
einmal einen irren Ausdruck in den Augen hatte. »Ich habe meinen Vater, meine
Mutter, meine Frau, meine Kinder, meine Freunde, Nachbarn, Patienten, Kollegen
und Studenten verloren. Damals arbeitete ich in einem Krankenhaus und sah zu,
wie es sich füllte und immer weiter füllte, bis nicht einmal mehr genügend
Lebende da waren, um die Leichen wegzutragen. Ich sah zu, wie meine ganze Welt
vor die Hunde ging, Walker, während Sie mit Puppen spielten. Also behaupten Sie
nicht, wir täten nicht genug, um die Menschheit zu retten. Und kommen Sie mir
nicht mit der Behauptung, wir müssten einen zweiten Partialkrieg riskieren.« Er
war kreidebleich geworden, die Hände zitterten ihm vor Wut.
Kira schluckte die Antwort hinunter, denn das hätte alles nur noch
schlimmer gemacht. So senkte sie nur den Kopf, wich seinem Blick aus und
widerstand dem Impuls, einfach aufzuspringen und hinauszulaufen. Das tat sie
nicht. Er war wütend und würde sie vermutlich hinauswerfen, aber sie wusste,
dass sie recht hatte. Wenn er sie hinauswerfen wollte, dann musste er es schon
selbst aussprechen. Sie hob den Kopf, sah ihm in die Augen und erwartete das
Urteil. Sie war an dieser Stelle gescheitert, aber sie gab nicht auf. Hoffentlich
bemerkte er ihr Zittern nicht.
»Sie melden sich morgen früh in der Forschungsabteilung«, entschied
er. »Ich informiere Oberschwester Hardy über Ihre Versetzung.«
12
Kira beobachtete ihre Freunde, die in Nanditas Wohnzimmer
lachten und scherzten. Es war spät, der Raum war nur schwach mit Kerzen
beleuchtet. Der gespeicherte Strom, den Xochi mit ihrer Solaranlage erzeugt
hatte, floss wie immer in die Player. Heute war Glückwunsch
Kevan an der Reihe, eine von Xochis Lieblingssammlungen: ein hektischer,
treibender Bass, eine gewalttätige elektronische Musik. Selbst leise gestellt,
versetzte die Musik Kiras Herz in Raserei.
Nandita war schon schlafen gegangen, und das war gut so. Kira wollte
ihren Freunden vorschlagen, einen Verrat zu begehen, und es wäre unfair
gewesen, Nandita mit in die Sache hineinzuziehen.
Unablässig hatte sie über Skousens Worte nachgedacht – wie es
gewesen war, während des Zusammenbruchs zu leben. Sie konnte ihm nicht
vorwerfen, dass er deshalb so starke Gefühle entwickelte, denn alle anderen
fühlten sich genauso. Aber erst in diesem Moment hatte Kira erkannt, wie
unterschiedlich die Menschen betroffen gewesen waren. Skousen hatte im
Krankenhaus gearbeitet, als das Virus freigesetzt worden war. Er hatte
beobachtet, wie sich die Klinik binnen Stunden gefüllt hatte, dann waren die
Gänge belegt gewesen, schließlich auch die Parkplätze. Die Seuche hatte wie ein
Wirbelsturm die ganze Welt erfasst. Die eigenen Angehörigen waren in seinen
Armen gestorben. Kira dagegen war allein gewesen. Ihre Tagesmutter war lautlos
im Bad gestorben, und ihr Vater war einfach … nicht mehr nach Hause gekommen.
Sie hatte ein paar Tage gewartet und alles Essen verbraucht, das sie selbst
zubereiten konnte. Dann war sie herumgelaufen, um sich Nachschub zu besorgen.
Das Stadtviertel war leer gewesen, die ganze Welt war leer gewesen. Wäre nicht
ein Armeekonvoi vorbeigekommen, der sich voller Verzweiflung von der Front
zurückgezogen hatte, dann hätte sie nicht überlebt.
Skousen erinnerte sich, wie die Welt in Stücke gegangen war. Kira
erinnerte sich, wie die Welt die letzten Kräfte mobilisiert hatte, um zu
überleben. Das war der Unterschied. Deshalb hatte Skousen so große Angst, etwas
zu unternehmen und das Problem zu lösen. Wenn überhaupt, dann mussten sich die
Seuchenbabys selbst darum kümmern.
Haru redete leidenschaftlich wie immer. Offenbar konnte er nur auf
diese Weise kommunizieren. Egal, in welches Gespräch er sich einklinkte, stets
stand er im Mittelpunkt, was jedoch nicht an seinem Charisma, sondern an seiner
schieren Entschlossenheit lag.
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