Passwort: Henrietta
betrachtete er den Mann, der auf dem Foto neben ihr stand und den Arm um sie gelegt hatte. Leon hätte die hohe Stirn überall erkannt. Was zum Teufel kuschelte sich Ralphy-Boy so an Sals Frau?
Beim nächsten Foto erstarrte er am ganzen Leib. Es war, von der Ferne aufgenommen, die Ansicht von hohen grauen Mauern, von viktorianischen Fenstern mit Eisengittern. Es hätte ein Waisenhaus oder eine Einrichtung für die Irren sein können. Aber Leon wusste es besser. Ihn schauderte. Er hatte ein ganzes Jahr in diesem gottverdammten Bau zugebracht. Hatte sich eine Zelle mit einem Typen namens Noel geteilt, der lebenslänglich bekommen hatte, weil er sein Haus in Brand gesteckt hatte. Seine Frau und seine drei Kinder hatten sich zu diesem Zeitpunkt im Haus aufgehalten. Leons Atem verflachte sich, seine Finger hinterließen Schweißspuren auf dem glänzenden Foto. Zwölf Monate lang hatte seine Welt aus einem Etagenbett und einer Toilette bestanden, dazu die Wachen, die um fünf Uhr morgens gegen die Türen hämmerten, um sich zu vergewissern, dass man im Schlaf nicht abgekratzt war.
Er steckte das Foto nach hinten und atmete mehrmals tief durch, als könne er damit die Erinnerung auslöschen. Dann starrte er auf die nächste Aufnahme und brauchte eine Weile, bis er kapierte, was er da sah. Eine Gestalt lag auf dem Boden, zum Teil von einem kleinen roten Wagen verdeckt, so dass nur die Beine erkennbar waren: graue Hose, dunkle Schuhe. Harry Martinez kniete am Boden, ihr Rücken zeigte zur Kamera. Leon zwinkerte. Das also war die Aufnahme, die er so gefürchtet hatte; kein Blut, noch nicht einmal ein Gesicht. Sein Blick heftete sich an das wenige, was von Sals Körper zu sehen war. Langsam schüttelte er den Kopf. Der Dreckskerl war also endlich dem scheußlichen Ort entkommen, nur um dann niedergemäht zu werden. Was für ein Scheißdeal.
Leon schob das Foto nach hinten und dachte, es wäre das letzte gewesen. Aber es kam noch eines. Die Nahaufnahme des Typen am Steuer des Geländewagens. Strähnen seiner weißblonden Haare ragten wie gebleichtes Stroh unter der Wollmütze hervor. Er hielt das Lenkrad umklammert, den Blick auf etwas direkt vor sich gerichtet, blind gegenüber der Kamera. Leon lief es eiskalt über den Rücken, als er die weitaufgerissenen, stieren Augen sah. Sie waren farblos, unheimlich, als wären die Pupillen verschwunden, so dass nur noch das Licht des Irrsinns in ihnen funkelte. Leon versuchte, die Lippen zu benetzen, aber seine Zunge war staubtrocken. Er hatte immer gewusst, dass der Prophet andere seine Drecksarbeit erledigen ließ, hier allerdings bekam er zum ersten Mal das wahre Gesicht des Mannes zu sehen.
Leon wischte sich über den Mund. Scheiße, vielleicht hatte er sich diesmal auf etwas eingelassen, was ihm über den Kopf wuchs. Vielleicht sollte er zum Teufel noch mal sofort aussteigen. Dann dachte er an Jonathan Spencer, und ein brennender Schmerz fuhr ihm in die Eingeweide. Jonathan hatte aussteigen wollen, doch der Prophet hatte ihn nicht gelassen. Leon fasste sich an den Magen. Warum zum Teufel hatte der Prophet ihm diese E-Mail über das Mädchen geschickt? Warum hatte er ihn mit reingezogen?
Leon kannte die Antwort bereits. Der Prophet benutzte ihn, genau wie früher. Er baute ihn auf, damit er für ihn den Kopf hinhielt. So operierte der Prophet: aus der Ferne, immer alles unter Kontrolle haltend, während er andere die Risiken übernehmen ließ. Selbst auf dem Höhepunkt des Rings hatte der Prophet keinen einzigen Trade selbst durchgeführt. Leon, Sal und Jonathan hatten ihre Karrieren aufs Spiel gesetzt. Der Prophet hatte sich ein großes Stück vom Kuchen abgeschnitten, aber keinerlei Spuren auf dem Papier hinterlassen, das zu den Ermittlungen gegen den Ring geführt hatte. Selbst Jonathans Tod hatte so sehr nach einem Unfall ausgesehen, dass der Prophet sicher sein konnte, ihm würde nichts geschehen.
Leons Blick kehrte zum Foto zurück, zu den blassen, psychopathischen Augen. Mit dem Finger fuhr er sich über den Hemdkragen, als er an die Spuren dachte, die zu ihm führen konnten. Falls Sal oder dem Mädchen irgendwas zustieß, saß er tief in der Scheiße. Großer Gott, es war sein Privatdetektiv gewesen, der ihre Wohnung zerlegt, der sie die ganze Woche über beschattet hatte. Sein Privatdetektiv, der sich sogar bei Arbour Hill aufgehalten hatte, als Sal überfahren wurde. Er hatte den Kontoauszug des Mädchens, um Himmels willen. Seine Adresse fand sich wahrscheinlich
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