Passwort: Henrietta
aufgehalten, keiner hatte sie gebeten, ihre Taschen zu öffnen. Sie sah durch das Fenster auf die über die Tragflächen der Maschine huschenden Nebelschwaden. Laut dem Piloten erwartete sie in Dublin dichter Nebel. Sie spannte die Finger an. Was erwartete sie noch?
Die Maschine landete pünktlich. Harry stieg mit den anderen Passagieren aus und begab sich zur Gepäckausgabe. Ihr Koffer kam als Letzter; als sie ihn endlich erblickte, fiel ihr ein Stein vom Herzen. Sosehr sie mit dem Personal in Nassau auch gestritten hatte, es hatte sich nicht dazu überreden lassen, ihre Sachen als Handgepäck zu deklarieren. Der Gedanke, dass alles außer Sichtweite verstaut wurde, hatte ihr gehörig Angst eingejagt.
Sie griff sich den schwarzen Koffer, stellte ihn auf die Rollen und schwang sich die Reisetasche ihres Vaters über die Schulter. Kurz sah sie sich um. Niemand ging auf sie los, niemand versuchte, sich ihres Koffers zu bemächtigen.
Sie machte einen Umweg über die Damentoilette, wo sie sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzte, bis sich ihre Haut taub anfühlte. Dann betrachtete sie sich im Spiegel. Ihre Müdigkeit hatte tiefe, dunkelrote Ringe unter den Augen hinterlassen, ihr Gesicht wirkte grau. Sie sah aus wie eine unterernährte Teenagerin und sicherlich nicht wie jemand, der es mit dem Propheten aufnehmen wollte.
Sie schloss die Augen. Ihr war schwindlig. Warum hatte sie nicht einfach wie geplant das Geld überwiesen? Welcher Teufel hatte sie nur geritten? Schließlich schüttelte sie den Kopf. Sie war müde, das war alles. Sie hatte die richtige Entscheidung getroffen. Das Geld war der einzige Grund, warum sie überhaupt noch am Leben war.
Harry sah sich auf der Toilette um und vergewisserte sich, dass sie allein war. Sie ließ die Kofferschlösser aufklicken und hob ein wenig den Deckel an. Das Geld war noch da. Sie drückte ihn zu. Dann schaltete sie ihr Handy ein und wählte Ruths Nummer. Sie hatte es mehrere Male vor dem Abflug auf den Bahamas versucht, war aber nie durchgekommen. Auch jetzt keine Antwort. Verdammt, wo steckte sie? Ihr wurde mulmig. Sie konnte es nicht allein durchziehen.
Ein Zittern lief ihr durch Arme und Beine. Sie ging neben ihrem Gepäck in die Hocke, legte den Kopf auf die Knie und atmete tief durch. Was, wenn jemand draußen in der Ankunftshalle auf sie wartete? Sie fröstelte. Sie sah auf die Uhr. 12:35 Uhr. Dann lehnte sie sich gegen ihr Gepäck und schloss die Augen. Vielleicht sollte sie einfach eine Weile lang hierbleiben. Hier konnten sie nicht reinkommen.
Sie blieb über zwei Stunden, lauschte auf die Gepäckförderbänder, wenn andere Maschinen eintrafen. Gepäckwagen rumpelten vorbei, Frauen strömten in die Toiletten und wieder hinaus. Ihre Oberschenkel wurden langsam taub. Wie lange konnte sie hierbleiben, bevor sie hinausgeworfen wurde?
Eine Gruppe von etwa zwanzig Teenagerinnen, in ihrem Maschinengewehr-Spanisch schnatternd, stürmte die Damentoilette. Sie waren an die siebzehn, achtzehn Jahre alt, drängelten sich vor den Spiegel, zeichneten ihr Make-up nach und schossen ihre Plaudersalven durch den Raum. Das Mädchen neben Harry nahm seine Uhr ab und zog sie auf.
»¿Es una hora más o una hora menos?«
Sind wir eine Stunde vor oder eine Stunde zurück?
Niemand hörte sie im Trubel.
»Es una hora menos«,
sagte Harry.
»Son las 14:35.«
»Gracias.«
Das Mädchen lächelte. Sie hatte zimtbraune Augen und dichtes, dunkles Haar.
Harry blinzelte. Dann betrachtete sie den Rest der Gruppe, den dunklen Teint, die schwarzen Augenbrauen, die schwarzen Haare der Mädchen. Sie stand auf, stellte sich zwischen sie und betrachtete ihr eigenes Spiegelbild. Dichte schwarze Locken, dunkle Augen. Ihre Haut war blasser, aber im Großen und Ganzen fiel sie unter ihnen kein bisschen auf. Nicht viel an Tarnung, aber mehr bekam sie vielleicht nicht.
Die Mädchen stürmten aus der Toilette. Harry packte ihre Sachen und folgte dichtauf. Draußen war die Gepäckausgabe von spanischen Studenten bevölkert, die sich nun gruppenweise zum Ausgang bewegten. Harry mischte sich mitten unter sie. Der Lärm war ohrenbetäubend. Die Menge schwemmte sie vorwärts. Als sie die Ankunftshalle erreichten, zog sie den Kopf ein und tat so, als würde sie an ihrem Koffer herumfummeln. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Wenn jemand auf sie gewartet hatte, dann musste er mittlerweile doch sicherlich wieder verschwunden sein.
Die Studenten drängten sich um sie. Harry stolperte mit. Der Flughafen war
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