Pastetenlust
aber gar nicht schlecht bezahlt. Und die mehr als 250 000 jede Woche über den
Ladentisch gehenden Exemplare des Schermann’schen Phantasieproduktes ließen auf
zumindest ebenso viele zufriedene Leser schließen. Das waren im Jahr 13 Millionen und bedeutete, dass er zumindest bei der Zahl an Lesern in
diesem Zeitraum mit Harry Potter mithalten konnte.
Das monotone Signal des Telefons holte Palinski aus seinen
Gedanken. Er schloss die offene Datei, schob die Maus zur Seite und nahm den
Hörer ab.
„Ja”, meldete er sich mit für ihn untypischer Knappheit, „wer
da?”
Nach einigen Sekunden Stille vernahm er die leise, unsichere
Stimme eines offenbar alten Mannes.
„Mein Name ist Lettenberg”, dieses Entrée sicherte dem
Unbekannten schlagartig Palinskis völlige Aufmerksamkeit. „Kann ich bitte mit
Herrn”, die Stimme zögerte kurz, ganz so, als ob der Gesprächspartner den Namen
erst ablesen müsste, „Mario Palinski sprechen?”
„Ich bin Palinski. Sie müssen entschuldigen, dass ich meinen
Namen nicht gleich genannt habe. Ich erwartete aber den Anruf eines Familienmitgliedes.”
Besser ein höflicher Lügner, dachte er , als ein
unhöflicher Wahrheitsfanatiker. „Was kann ich für Sie tun?”
„Ich bin der Vater von Jürgen Lettenberg und habe Ihren Namen
aus den Nachrichten. Ihre Telefonnummer hat mir Herr Pleska gegeben, ein Freund
von Dr. Tagenow.”
Tagenow war Anwalt in Mainz sowie der Trauzeuge von Palinskis
Schwager gewesen, einem gebürtigen Dortmunder. Die Familie seiner Schwester
lebte jetzt in der Nähe von Würzburg. Wer zum Teufel Herr Pleska war, wusste er
nicht, war ihm aber auch völlig egal.
Palinski war fasziniert von den unvorhergesehen Fügungen des Schicksals, das ihm diese Begegnung zu ermöglichen
schien und fast aufdrängte.
„Ich verstehe. Mein aufrichtiges Beileid, Herr Lettenberg.”
Sein kriminalistisches Gespür sagte ihm, dass ihn ein Gespräch mit diesem Mann
weiterbringen konnte.
„Was halten Sie davon, wenn wir uns treffen und miteinander
sprechen würden?”
Palinski konnte hören, wie der alte Mann erleichtert
aufatmete. „Das ist genau das, worum ich Sie bitten wollte.” Lettenberg
schluchzte leise auf. „Ich weiß nicht, was ich hier eigentlich will. Ich weiß
nur, dass ich unbedingt hierher kommen musste. Vielleicht können Sie mir
helfen, das alles zu verstehen.”
Betreten schwieg Palinski einige Sekunden. „Ich werde mich
auf jeden Fall bemühen.” Dann vereinbarten sie, dass Palinski ihn gegen 15 Uhr
in der Pension ›Weinberg‹ aufsuchen würde.
*
Das ›Salettl‹ in der Hartäckerstraße verfügt
über einen der schönsten Gastgärten Wiens. Palinski hatte hier einige seiner
Paukerkurse abgehalten, das war aber schon lange her. In den letzten Jahren
hatte es ihn aber nur mehr selten hierher verschlagen. Warum eigentlich, dachte
er sich angesichts des wunderbaren Ausblicks auf die Stadt und des nahe
gelegenenWienerwalds.
Leider erlaubte es das Wetter heute nur bekennenden
Masochisten, im Freien zu sitzen. Es schüttete wie aus Schaffeln und ein kalter
Wind drang Palinski wie ein Messer unter die ungenügend abschirmende
Oberbekleidung.
Wallner wartete bereits in dem alten, wunderschön restaurierten
Pavillon. Er hatte offenbar schlechte Laune, die zerknüllten und in kleine
Futzeln zerrissenen Papierservietten vor ihm am Tisch waren ein deutliches
Indiz dafür.
„Hallo Helmut”, Palinski setzte sich. Automatisch streckte er
die linke Hand hoch und dann drei Finger. Vor Jahren war das unter Eingeweihten
die nonverbale Bestellung eines Großen Braunen gewesen. Er war gespannt, ob
sich diese Tradition erhalten hatte. „Irre ich mich oder ist dir was über die
Leber gelaufen?”
„Scheiß Politik”, brummte der Inspektor. „Lettenbergs
Produzent hat seinen Freund, den bayrischen Innenminister angerufen. Der hat
dann unseren Innenminister angerufen. Wen der dann angerufen hat, weiß ich
nicht im Detail. Auf jeden Fall ist das BKA jetzt in die Sache involviert.”
Jetzt wurde Palinskis Kaffee serviert. Er freute sich, dass
sich über die Jahre hinweg doch nicht so viel verändert hatte wie befürchtet.
„Und was bedeutet das, sind wir aus dem Fall raus?”, wandte sich Palinski
wieder Wallner zu. Überrascht stellte er fest, dass auch er sich über die
Anordnung des Ministers zu ärgern begann.
„Das nicht, zumindest noch nicht. Sie schicken uns aber ein
Beiwagerl.”
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