Pastetenlust
das.”
Josefa Willinger musste einmal eine sehr schöne Frau gewesen
sein, fand Palinski. Trotz ihrer altersbedingten Hinfälligkeit strahlte sie
sehr viel Würde aus und, ja, auch Charisma.
„Das ist Mario”,
stellte Lettenberg den zweiten Besucher vor. Sie hatten sich der Einfachheit
halber darauf geeinigt, Palinski mit dem Vornamen vorzustellen. „Ein Freund aus
Wien.”
Josefa Willinger starrte den Fremden interessiert an. Nach
einer Weile sagte sie: „Ah Wien” und begann zu summen. Palinski blickte
Lettenberg fragend an, plötzlich erkannte er die Melodie trotz der nicht ganz
deutlichen Wiedergabe. Die alte Frau summte den Donauwalzer und schien Freude
daran zu haben.
„Wo Jürgen?”, fragte sie plötzlich. „Wo Frau?”
Palinski blickte
Lettenberg fragend an, der schüttelte unmerklich, aber erkennbar verneinend den
Kopf.
„Ich bin nicht sicher, ob wir es ihr überhaupt sagen sollen”,
zweifelte er, „wem soll das nützen? Ihr kann es nur schaden.” Er flüsterte ihm
das zu und Palinski nickte nur. Vor allem aber war es wirklich nicht seine
Sache, Todesnachrichten um jeden Preis zu überbringen.
Lettenberg
hatte sich zu der alten Dame gesetzt, hielt ihre Hand und streichelte sie an
der Wange. Palinski blickte sich in dem hübschen Raum um und nahm die
zahlreichen gerahmten Fotos, die herumstanden und an den Wänden hingen, in
Augenschein. Die meisten der Bilder zeigten Josefa Willinger mit Jürgen am
Schoß, im Kinderwagen und auf der Wiese. Auf einigen war auch Vater Lettenberg und eine Frau, wahrscheinlich Jürgens Adoptiv-
mutter zu sehen .
Eine alte, schon stark vergilbte Aufnahme zeigte eine sehr
hübsche, sehr junge Frau, fast noch ein Mädchen, mit einem Baby im Wickelkissen
im Arm. Das sie offenbar gerade in einen uralten Kinderwagen legen wollte.
Palinski nahm das Bild und näherte sich vorsichtig der alten Dame. „Ist das i hre Tochter, Frau Willinger?”, er
formulierte bewusst prononciert, damit ihn die alte Dame auch verstand.
Was sie aber allem Anschein nach nicht tat. Sie blickte zwar
auf das Bild, reagierte aber nicht auf seine Frage. Dann begann sie plötzlich
und für die beiden Männer völlig unerklärlich zu weinen. Erschrocken entfernte
sich Palinski und stellte das Bild wieder an seinen Platz. Vielleicht mochte es
Josefa einfach nicht, dass man ihre Sachen ungefragt in die Hand nahm.
Die alte Dame wirkte plötzlich völlig abwesend und jammerte
unverständlich vor sich hin.
„Ich denke, es ist besser, wenn Sie jetzt gehen”, mahnte
Anita, die wie auf ein Stichwort in der Türe erschienen war.
„Was hat sie denn?” wollte Lettenberg wissen, „das kenne ich
ja gar nicht von ihr.”
„Wir wissen es nicht genau. Irgendetwas muss sie plötzlich
sehr aufgeregt haben.” Anita überlegte. „Das erste Mal war das, wie Ihre
Schwiegertochter zu Besuch da war.”
Lettenberg erstarrte förmlich. „Was haben Sie gesagt? Mein
Sohn war hier mit seiner Frau? Wann soll das gewesen sein?”
„Ihr Sohn war schon lange nicht mehr hier. Sicher ein halbes
Jahr oder länger. Übrigens, mein herzliches Beileid zu Ihrem Verlust.” Auch
Schwester Anita hörte Nachrichten.
„Ich bin der Meinung, wir sagen ihr besser nichts”,
Lettenberg blickte die Pflegerin fragend an. Die nickte zustimmend. „Eine weise
Entscheidung. Von uns erfährt sie auch nichts.”
„Wann soll meine Schwiegertochter hier gewesen sein”, der
alte Herr hatte sein Stichwort trotz der Unterbrechung nicht vergessen.
„Tja”, Schwester Anita überlegte, „das erste Mal etwa vor
drei Monaten und das zweite Mal am Sonnabend vor Palmsonntag. Daran erinnere
ich mich genau, da der alte Herr Simon an dem Tag verstorben ist.”
Lettenberg schüttelte den Kopf, er konnte sich beim besten
Willen nicht vorstellen, was Jürgens Frau, die er übrigens nie kennengelernt
hatte, bei der Oma gewollt haben mochte.
Josefa Willinger hatte sich zwischenzeitlich wieder etwas
beruhigt. Sie brabbelte immer noch etwas vor sich hin, weinte aber nicht mehr.
Palinski versuchte zu verstehen, konnte mit dem scheinbar sinnlosen „Maschdo
masch wis od omasch wo ui ui ui”, das sie wieder und wieder vor sich
hinplapperte, nichts anfangen. Sicherheitshalber notierte er sich die
Buchstabenfolge, man wusste nie, wofür das gut sein konnte.
„Also, meine Herren. Ich glaube, Sie müssen jetzt gehen.”
Verständnisheischend drängte sie die beiden Männer zur Türe.
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