Pastworld
bevor er die Einladungen nebeneinander auf den Kaminsims stellte. Dann holte er mit halb abgewandtem Rücken einen weiteren Brief hervor, dieses Mal aus seiner Innentasche. Caleb beobachtete ihn, wie er ihn öffnete und las. Ein seltsamer Ausdruck huschte über das Gesicht seines Vaters; ein Ausdruck nackter, plötzlicher Angst. Er war schnell wieder verschwunden, aber nicht schnell genug, als dass Caleb ihn nicht bemerkt hätte. Er hatte einen Blick auf das eine Wort werfen können, das in großen Buchstaben über die Seite gekritzelt war. Aber es ergab keinen Sinn. Sein Vater warf den zerknüllten Brief ins Feuer, stand mit gesenktem Kopf an den Kaminsims gelehnt und sah zu, wie das Blatt Papier verbrannte, bis es nur noch schwarze Asche war. Er nahm einen schweren Metallschürhaken vom Kaminständer, zerbröselte die schwarze Asche und begrub die Reste tief zwischen den glühenden Kohlen.
»Was war das denn?«, fragte Caleb.
»Oh«, erwiderte Lucius, »nichts – eine unbedeutende Notiz, die in der Tasche dieses Anzugs steckte. Also kannst du doch Interesse an den Tag legen, du kannst den Mund aufmachen, wenn es dir in den Kram passt.«
»Was?«, protestierte Caleb.
»Wir sind durch die Straßen dieser höchst bemerkenswerten Stadt gefahren«, sagte sein Vater, der plötzlich und aus unerfindlichen Gründen ärgerlich war. Der schwere Schürhaken in seiner zitternden Hand war fast wie eine Waffe auf Caleb gerichtet. »Eine großartige technische Leistung, eins der großen Wunder der modernen Welt und vieles davon ist meinen Bemühungen zu verdanken – und was genau hast du dazu zu sagen gehabt? Nichts oder so gut wie nichts, überhaupt kein Kommentar. Ich verzweifle manchmal an deiner Generation, mein Junge, das kann ich dir sagen.«
»Ich habe mir alles angeschaut. Du hast es gesehen, ich habe mir die größte Mühe gegeben, alles mitzubekommen«, sagte Caleb, der von der geballten Wut des Ausbruchs verwirrt war. Das sah seinem Vater so gar nicht ähnlich und Caleb hatte den Eindruck, dass er seinen Zorn nur an ihm ausließ, weil er Angst hatte. Wovor hatte sein Vater Angst? Was bedeutete dieser Brief, dieses eine Wort? Und warum musste er die Nachricht auf eine Art und Weise verbrennen, als ob sie verseucht wäre, als ob sie ihm etwas antun könnte? Caleb begriff instinktiv, dass etwas in der Luft lag, etwas, was mit dem Brief zu tun hatte. Aber er sagte nichts weiter dazu.
Sein Vater richtete seine Aufmerksamkeit auf die Schachteln. Sie enthielten zwei Halloweenkostüme, die speziell nach ihren Maßen angefertigt worden waren. Das Kostüm seines Vaters war ein formeller viktorianischer Anzug, der mit einem Skelett bedruckt war.
Darüber gehörte ein langer Umhang, der das weiße Knochengerüst nur dann freigab, wenn er aufschwang oder ausgezogen wurde. In Calebs Karton befand sich ein ähnlich zeremonieller Anzug, aber ohne Skelettaufdruck. Stattdessen lag eine Totenkopfmaske dabei. Der zerknüllte Schädel grinste ihn an und ließ die Schachtel mit den ordentlich zusammengefalteten Kleidungsstücken darin wie einen Miniatursarg erscheinen.
Caleb hatte sich noch nicht an die steife, unbequeme viktorianische Kleidung, die er tragen musste, gewöhnt. Er zog sich in seinem kleinen Schlafzimmer aus, das durch die üppige Dekoration noch kleiner wirkte: auch hier wieder Tapeten mit Blättermuster, goldgerahmte Gemälde, Aquarelle von Hochlandrindern und Ansichten der Pyramiden. Er freute sich auf eine traumlose Nacht in dem altmodischen Eisenbett.
Er hatte den ganzen Tag über an seiner Kleidung herumgezupft, an den Hosen, die bis hoch über die Taille reichten und mit engen elastischen Hosenträgern festgehalten wurden, die auf seine Schultern drückten. Seine Füße schmerzten in den harten halbhohen Lederstiefeln. Er hing sein Jackett auf einen Bügel neben den Mantel mit Samtkragen und die tief ausgeschnittene, geknöpfte Weste. Das weiße Hemd hatte einen abnehmbaren, sehr steifen Kragen, der hinten und vorn mit dicken goldenen Kragenknöpfen befestigt wurde, was teuflisch schwer zu bewerkstelligen war, und der einen roten, juckenden Abdruck um Calebs Hals hinterlassen hatte.
Am Waschbecken putzte er sich die Zähne. Dazu musste er die Bürste in eine runde Dose mit Zahnputzmittel tunken, das stark medizinisch schmeckte. Er betrachtete sein Spiegelbild. Sein Haar war mit Pomade eng an den Kopf geklebt, auf seinen Schultern hatten die Hosenträger rote Abdrücke hinterlassen – er erkannte sich
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