Pata Negra: Kriminalroman (German Edition)
sie ein, »ich denke schon, dass es eine Kraft gibt, die über Gut und Böse richtet und ich bezweifle auch nicht, dass es diesen Jesus Christus damals wirklich gab. Nur dass er so etwas wie ein Che Guevara war. Ein Revolutionär, den die katholische Kirche erst Jahrhunderte später mystifizierte, um ein riesiges Business daraus zu machen. Aber egal, dort oben ist jedenfalls eine kleine Kapelle und dort zünden wir nun Kerzen an.« Sie hielt drei Teelichter in die Luft. »Eine für deinen Bruder, eine für meine Mutter und eine für meine Schwester!«
Kilian wollte etwas erwidern, aber Joana war schon ausgestiegen. Kopfschüttelnd folgte er ihr durch einen Pinienwald hinauf zur Kapelle. Er hatte schon viele konträre Meinungen zur katholischen Kirche gehört, aber bis jetzt hatte noch niemand Jesus Christus mit Che Guevara verglichen. Er schmunzelte. Aber wenn man genauer darüber nachdachte … Che Guevara wollte aus dem Dschungel heraus sein Volk befreien, genau wie Jesus Christus Israel befreien wollte – und dabei ebenso scheiterte. Beide wurden ermordet und sahen sich mit ihren Bärten sogar noch ähnlich. Diese Frau schien es fertigzubringen, mit ein paar Sätzen sein langjähriges Theologiestudium auf den Kopf zu stellen.
»An wichtigen Feiertagen, so wie am Ostersonntag, gibt es hier kleine Andachten«, erklärte Joana und spielte mit dem Docht der Teelichtkerze. »Zu diesen Gelegenheiten habe ich meine Mutter hierher begleitet, weil sie für meine Schwester beten wollte, denn im Gegensatz zu mir, war meine Mutter sehr gläubig.« Eine Träne kullerte über ihre Wange. »Aber es hat nichts genützt!«
Kilian fiel nichts Besseres ein, als sie in den Arm zu nehmen. Er verstand ihre Gefühlsschwankungen, weil es ihm nicht anders erging. Es gab gute Momente, so wie eben beim Frühstück oder in der Nacht zuvor in der Strandkneipe, aber die Trauer ließ sich nach so kurzer Zeit nicht einfach überlisten. Auch er fühlte sich seinem Bruder in dieser Kapelle inmitten des Pinienwaldes nahe.
Joana zündete zwei Kerzen an, gab ihm die dritte zusammen mit den Streichhölzern und setzte sich auf die hinterste Bank. Kilian stellte das brennende Teelicht für seinen Bruder auf den Schrein, bekreuzigte sich und setzte sich auf die Holzbank, direkt vor dem Altar, der nicht größer als ein Schreibtisch war. Er faltete seine Hände und murmelte ein Vaterunser. Danach hielt er ein Zwiegespräch, aber nicht mit Gott, dem Allmächtigen, sondern mit seinem Bruder. Er versuchte alles um sich herum auszublenden und sprach in Gedanken zu Xaver, als säßen sie gemeinsam im Wirtshaus. Kilian sagte ihm all die Dinge, über die er immer schon hatte sprechen wollen, bis es zu spät gewesen war.
Die Minuten verstrichen und außer dem Zirpen der Zikaden, das durch die Kapellentür drang, war es still an diesem magischen Ort, an dem er zunehmend fühlte, dass diese Konversation tatsächlich stattfand.
Bilder zogen hinter seinen geschlossenen Lidern vorbei, die nicht nur seinem Unterbewusstsein entspringen konnten. So etwa versicherte er Xaver im Gedanken, ihn bald nach Hause zu holen, wo er eine schöne Trauerfeier für ihn organisieren wolle. Er versprach ihm auch, herauszufinden, wer seine engsten Freunde in München waren. Diese würde er zusammen mit seinen Arbeitskollegen und einigen entfernten Verwandten dazu einladen. Eine Trauerfeier auf einem ruhigen Friedhof mit einem würdigen Grabstein, gelobte er.
Dann formte sich eine Vision, die mit diesen Gedanken nichts zu tun hatte: das Bild eines kleinen Bootes. Sicher, dachte Kilian, der Sonntagnachmittag auf dem Chiemsee, unser einziger Familienausflug. Damals war er ins Wasser gefallen, weil er einen Fisch mit der bloßen Hand hatte fangen wollen – sein Vater hatte ihm dafür eine Tracht Prügel verabreicht –, aber jetzt war irgendetwas anders. Nicht er selbst war es, der ins Wasser stürzte, sondern Xaver – Moment! War das überhaupt Xaver? Die Person schien sich an etwas zu klammern, dass sie vor dem Bauch trug. Kilian rieb sich die Augen und presste die Lider erneut zusammen. Das Boot schipperte auch gar nicht auf dem Chiemsee, sondern auf dem Meer. Kilian konnte den Klang der Fluten in seinen Ohren hören; der Boden unter seinen Füßen schien sich zu wölben und zu schwanken, dann war die Eingebung vorbei. Er presste die Augen noch fester zusammen, aber es flimmerte nur noch, wie bei einem Schwarz-Weiß-Fernseher mit kaputter Antenne …
Woher kam dieser Gedanke?
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