Pata Negra: Kriminalroman (German Edition)
War er ihm tatsächlich von Xaver suggeriert worden? Und falls ja, hatte dieses Bild dann eine Bedeutung?
Kilian öffnete die Augen und wischte sich über die Stirn. Er fühlte nun deutlich, dass er mit Xaver in irgendeiner Form verbunden war. Er schluckte, als ihm eine naheliegende Idee kam: Wäre es möglich, dass Xaver ihm auf die eine Frage, die alle beschäftigte, eine Antwort ins Gehirn pflanzen konnte? Er kniff die Augen zusammen und fragte in die Finsternis hinein: Was ist mit dir in dieser Nacht geschehen, Xaver?
Eine Weile geschah nichts. Kilian blinzelte, rieb sich die Augen und geraume Zeit tanzten helle Punkte vor seinen geschlossenen Lidern, Punkte, die sich verdichteten und zusammenfügten und dabei langsam ein Bild entstehen ließen. Zuerst undeutlich, wie Reliefbilder, wo man zurücktreten und den Fokus verändern musste, um etwas zu erkennen. Aber dann materialisierte sich immer deutlicher eine Person, die er schon einmal gesehen hatte, heraus. Kilian musste nicht lange nachdenken, wo das gewesen war. Er hatte sie gestern in Joanas Haus erkannt. Auf einem Foto. Das Bild auf seinem inneren Auge gewann immer mehr an Kontur, er sah sie nun fast dreidimensional vor sich: Inmaculada. Joanas Mutter.
Kilian erschrak heftig, als ihm Joana die Hand auf die Schulter legte.
»Lass uns gehen«, sagte sie.
Benommen folgte er Joana aus der dunklen Kapelle in den gleißenden Sonnenschein und hob seine Hand schützend vor die Augen. Kilian ließ sich auf einen Felsen sinken, von dem aus man über den Hafen und die Bucht von Almuñécar bis hinauf zu den Bergen der Sierra Nevada sehen konnte. Aber ihm war der Panoramablick egal. Er schloss seine Augen, aber die Vision war verschwunden.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Joana.
»Ich weiß nicht … da drinnen … sag mal, glaubst du an Geister?«
»An Geister glaube ich schon eher als an Gott«, erwiderte sie lächelnd und setzte sich neben ihn.
»Im Ernst, da drinnen, ich hab so etwas wie eine Vision gehabt, als ob ich mit Xaver in irgendeiner Form kommuniziert hätte. Kann das sein, oder bilde ich mir das nur ein?«
»Oh, das kann schon sein. Hast du nicht früher auch Geister beschworen? Mit einem kleinen Tisch oder einem Glas und Buchstaben rundherum? Wir haben das öfters gemacht und ein paarmal hat es funktioniert und jeder hat versichert, er hätte nicht geschummelt und selbst gerückt. Einmal hatten wir sogar Federico García Lorca in der Leitung, das ist ein Poet hier aus der Provinz Granada. Er wurde 1936 erschossen, weil er homosexuell war. Aber habe ich das nicht schon mal erzählt? Egal. Vielleicht eignen sich schwule Geister ja ganz besonders als Medium?«
Kilian fand das nicht besonders lustig.
»Sorry«, sagte sie und legte ihm die Hand auf die Schulter, »das war nicht gerade taktvoll … also, was war das nun für ein geistreiches Gespräch mit deinem Bruder?«
Kilian erzählte ihr davon und Joana überlegte nicht lange, bevor sie mit ihrer Interpretation dieser spirituellen Begebenheit aufwartete: »Der erste Fall ist klar, der zweite weniger!«
»Wie bitte? Was meinst du damit: ›Der erste Fall ist klar?‹«
»Na, du schickst deinem Bruder Gedanken in den Himmel, dass du ihn in München nach dem Ritus der katholischen Kirche beerdigen willst, und er sendet dir eine spirituelle SMS zurück, dass er darauf pfeift und lieber eine Seebestattung hätte!«
»Eine was?«
»Na, eine Seebestattung. Hast du in deiner Vision nicht ein Schiff im Meer gesehen? Und wie jemand einen Gegenstand hielt, der dann ins Wasser fiel? Das muss die Urne gewesen sein! Eine Seebestattung ist hier nicht unüblich. Vor allem Nordeuropäer, die ihren Wohnsitz in Almuñécar haben und auch hier versterben, entscheiden sich dafür. Das spart den Rücktransport in ihre Heimat. Antonio aus der Cafeteria, den wir gestern Nacht in der Strandbar getroffen haben, hat ein kleines Fischerboot. Wir könnten ihn fragen, ob er uns rausfährt!«
Kilian sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren.
»Du meinst ernsthaft, ich soll Xaver einfach so ins Wasser schmeißen?«
»Klar. Er wird eingeäschert und dann wird seine Asche im Meer verstreut.«
Kilian raufte sich die Haare, als plagten ihn Läuse. »So ein Schmarrn, er kommt auf einen Friedhof und da gibt es eine Trauerfeier, bei der er die heiligen Sakramente erhält. Dort kann ihn dann jeder am Grab besuchen und Blumen …«
»Aber er will es nicht anders!«, unterbrach ihn Joana.
»Außer du glaubst
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