Pata Negra: Kriminalroman (German Edition)
bestenfalls einen Tennisball stopfen konnte. Er gab auf. Durch die Mauer kamen sie nicht durch, jedenfalls nicht ohne vorher zu verdursten. Sein T-Shirt war schweißnass und er musste immer öfter an einen Krug voll kühlen Wassers denken. Joana hatte die letzte Stunde abwechselnd mit Hilferufen und Heulen verbracht, aber schreien war genauso sinnlos, wie mit bloßen Händen gegen diese Mauer anzukämpfen. Das Haus lag abgeschieden und die Wände dämpften jegliche Geräusche.
Kilian sah auf seine Uhr. Acht Uhr morgens. Sie waren seit neun Stunden gefangen. Draußen war mittlerweile die Sonne aufgegangen, Lichtpfeile drangen durch das löchrige Dach und leuchteten ihr Verlies jetzt hinreichend aus. Er sah zu dem baufälligen Dach hoch und konnte durch ein tellergroßes Loch in den Himmel blicken. Die Seitenwände des Stalls waren etwa fünf Meter hoch und von der Oberkante erhob sich das Dach bis auf eine Giebelhöhe von ungefähr acht Metern. An einer der Schmalseiten des Anbaus ragte an der Oberkante der Mauern ein Holzbalken in den Stall. Kilian nahm an, dass dieser Balken ein Teil der Zwischendecke des angrenzenden Wohngebäudes war.
Er stellte sich unter den Holzbalken und hob die Arme. Es würde nicht funktionieren, selbst wenn er auf Joanas Schultern hockte. Er presste die Hände vors Gesicht und überlegte. Müdigkeit, Durst und Angst brachten ihn ins Wanken, die Dinge begannen sich in seinem Kopf zu drehen. Er kniete auf den Boden und starrte zu dem Balken hoch, der dort oben einen Meter weit in den Raum hineinragte. Dort müsste er hingelangen, dann könnte er mit dem Stemmeisen ein Loch in das brüchige Dach schlagen.
»Zieh dich aus!«, sagte er zu Joana.
»Was?«
»Zieh deine Kleider aus!«
»Ich hoffe, du denkst jetzt nicht etwa an Sex, oder?«
»Nein, nur an unsere Flucht! Ich brauche deine Jeans, T-Shirt, Gürtel und Socken.«
Joana entledigte sich ihrer Kleidung und Kilian tat dasselbe, bis sie sich in Unterwäsche gegenüberstanden.
»Lass mich raten, wenn es dir nicht nur darum geht, mich halb nackt zu sehen, dann war deine Lieblingssendung als kleiner Junge ›MacGyver‹, stimmt’s?«
Kilian musste lächeln. »Die hat es in Spanien auch gegeben?«
»Klar, jetzt erzähl, was du vorhast!«
»Pass auf.« Er begann die Kleidung zu verknüpfen.
Zehn Minuten später hatten sie einen Strang aus verbundenen Jeans, T-Shirts, Socken und Schuhbändern. Sie zogen an den jeweiligen Enden, aber die vier Meter lange neue Definition einer Wäscheleine schien reißfest zu sein. Zuletzt nahm Kilian die beiden Gürtel zur Hand. Die Schnalle seines eigenen, längeren Gürtels ließ er am letzten Loch einrasten, sodass ein Kreis von etwa dreißig Zentimeter Durchmesser entstand. Danach zog er Joanas Gürtel wieder in ihre Jeanslaschen am Hosenbund, der das Ende des Strangs darstellte, und verknüpfte die beiden Gürtel. Kilian betrachtete das Lasso, während Joana nervös um ihn herumtanzte. Hoffnung erfüllte sie mit neuen Lebensgeistern.
»Jetzt schau mer mal!«, meinte Kilian und stellte sich unter den Holzbalken.
Um das Gürtelauge besser werfen zu können, hatte er als Wurfhilfe das Stemmeisen mit Joanas Strumpfhose daran befestigt. Nun hielt er das Eisen in der Hand und zielte auf den Balken. Es galt, seinen Gürtel mit dreißig Zentimeter Durchmesser über einen etwa zwanzig Zentimeter dicken Balken zu werfen, der sich in fünf Metern Höhe befand. Dann hinge der Kleiderstrang nach unten und er könnte daran hochklettern. So viel zur Theorie, dachte er und warf beim ersten Mal einen Meter daneben.
Joana zählte den dreißigsten Fehlversuch, als zehn Minuten später das Stemmeisen abermals zu Boden knallte. »Lass mich mal!«, sagte sie und nahm Kilian die Kleiderschlange aus der Hand. Joana hielt das Eisen wie eine Bowlingkugel und deutete den Wurf dreimal an, ehe sie warf – und traf! Der Gürtel rutschte über den Holzbalken und ihre Fluchtleine baumelte knapp über dem Boden. Kilian sprang vor Freude in die Luft. Joana, verblüfft über diesen Wurf, riss die Hände hoch und fiel in seine Arme. Sie wiegten sich und tanzten für einen Moment des Glücks, bis sie stolperten, die Köpfe hoben und sich ihre Lippen keine Nasenlänge voneinander entfernt fanden. Ihre Blicke trafen sich für einen Wimpernschlag, ehe sie in stummer Übereinkunft die Augen schlossen und ihre Lippen zusammendrängten, als wären sie magnetisch geladen. Ihre aufgestauten Emotionen entluden sich wie bei einem
Weitere Kostenlose Bücher