Pata Negra: Kriminalroman (German Edition)
erwähnte er den Toten von gestern. Business as usual.
Joana musterte das Profil ihres Chefs, während dieser sich mit seinem Montblanc-Füller über ein Anmeldeformular beugte.
Carlos Roig würde im November seinen fünfzigsten Geburtstag feiern, aber in letzter Zeit wirkte er so abgespannt, dass man auf die fünfzig gut noch zehn Jahre drauflegen konnte.
Vielleicht hat ihm die Trennung von seiner Frau, die Anfang des Jahres mit den beiden halbwüchsigen Töchtern zurück nach Barcelona gezogen war, mehr zugesetzt, als man von dem unsensiblen Carlos annehmen durfte. Als er vor sechs Jahren die Stelle als Direktor des »Palace« annahm, hatte er seine Familie mitgebracht. Die Mädchen besuchten die internationale Schule in Los Pinos und nach außen hin schien alles in bester Ordnung. Bis Carlos Joana eines Tages erzählte, dass seine Frau ihn einfach so verlassen hatte.
Einfach so …
Joana kannte Carlos’ Exfrau kaum, aber wenn er sie auch nur annähernd so behandelte wie sein Personal, konnte sie deren Entscheidung gut nachvollziehen. Carlos’ pomadige Haare wurden an den Schläfen immer grauer und am Hinterkopf immer dünner. Außerdem hatte er in letzter Zeit deutlich an Gewicht zugelegt. Selbst sein maßgeschneiderter Anzug konnte diese Entwicklung nicht mehr verbergen. Ein Anschein, der von einem sich über den Hemdkragen wölbenden Doppelkinn noch unvorteilhaft verstärkt wurde.
Carlos stammte aus einer reichen katalanischen Familie und trug dieses Erbe gerne zur Schau. »Understatement« war nichts für ihren Chef. Goldene Manschettenknöpfe und goldene Krawattenspangen passten farblich zu seiner Rolex Jachtmaster. Selbstverständlich fuhr Carlos mit einem Mercedes durch die Straßen der Costa Tropical – wenngleich dieser auch schon einmal größer gewesen war: Eine 500er S-Klasse hatte bereits einem 270er Diesel weichen müssen. So eine Scheidung kostete eben Geld. Außerdem munkelte man im Hotel, dass er die Villa, die er zusammen mit seiner Exfrau in der exklusiven Wohnsiedlung Punta de la Mona besaß, bereits diskret über das Immobilienbüro Mengel & Partners zum Verkauf angeboten hatte, um später in ein einfaches Appartement in Almuñécar zu ziehen.
Carlos hatte also durchaus seine persönlichen Sorgen, doch Joana war weit davon entfernt, Mitleid für ihren Chef zu empfinden. Einen weiteren Sorgenpunkt stellte außerdem sein Neffe Narcís dar. Der Bruder von Carlos besaß zwar selbst ein kleines Hotel bei Girona unweit der französischen Grenze, entsandte aber zum Leidwesen aller seinen flegelhaften Sohn in den Süden. Narcís sollte unter den Fittichen seines Onkels im »Palace« eine Art Praktikum absolvieren, oder einfach langsam erwachsen werden, wie die einhellige Meinung des Hotelpersonals zu diesem Thema lautete. Der Junge hatte schon in drei Hotelbereichen gearbeitet und nur Stress bereitet und Nerven gekostet.
Joana wandte sich ihrem Bildschirm zu, um zu prüfen, wie viele der für heute angekündigten Reisegäste noch nicht eingecheckt waren. Über den Bildschirmrand nahm sie wahr, wie eine einzelne Person die Lobby durchquerte: Elena, das junge Mädchen vom Restaurant. Sie trug ihre Arbeitsuniform und starrte in Joanas Richtung, wandte den Blick jedoch gleich wieder ab, als Joana aufsah. Ohne zu grüßen beschleunigte sie ihren Schritt.
Seltsam …
Normalerweise kam das Restaurantpersonal durch den Lieferanteneingang zur Arbeit und nahm nicht den Haupteingang an der Rezeption vorbei. Kurz bevor Elena um die Ecke zum Restaurant bog, schielte sie noch einmal zurück zur Rezeption. Ihre Blicke trafen sich.
Elena …
Der gestrige Anruf kam Joana wieder in den Sinn. Sie hatte bisher wenig mit Elena zu tun gehabt, da sie selten im Restaurant aß. Wann hatte sie das letzte Mal mit ihr gesprochen?
Ein junges Paar näherte sich der Rezeption, Joana gab ihnen Auskunft über die Öffnungszeiten im Wellnessbereich, drückte ihnen den entsprechenden Prospekt in die Hand und wünschte einen schönen Tag.
Elena …
Joana versuchte, sich an die Stimme des Mädchens zu erinnern. Im Hotel arbeiteten siebzig Angestellte und sie würde nicht alle an ihren Stimmen erkennen, schon gar nicht wenn … Sie entschied, sich auf ihren Instinkt zu verlassen, gab Maite ein Zeichen und wandte sich zögerlich zum Restaurant. Und wenn tatsächlich Elena die Anruferin gewesen war? Das würde auch bedeuten, dass sie irgendetwas wusste.
Carmen ist tot …
8
A ls Joana das Restaurant betrat, räumte
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