Pata Negra: Kriminalroman (German Edition)
Joana gar nicht aufgefallen. In dieser Hinsicht war ihre Wahrnehmung schon seit Langem getrübt. Zwar wurden ihr hin und wieder Avancen gemacht, aber seit sie im »Palace« arbeitete, hatte sie sich – ganz im Gegensatz zu Maite – noch nie mit einem Hotelgast eingelassen … außer mit Roberto.
Komisch, dass ihr das gerade heute wieder einfiel.
Sie stellte den Rest der Tortilla in den Kühlschrank und spülte die Bratpfanne ab. Ihr war schlecht und sie fühlte sich schwindelig. Joana ließ sich in das Ledersofa fallen und betastete ihre Stirn: heiß wie ein Autodach im Sommer.
Roberto hatte damals eine Woche im »Palace« verbracht, irgendwie später ihre Nummer herausbekommen, sie angerufen und zu einem Abendessen überredet. Am darauffolgenden Wochenende war er die fünfhundert Kilometer von Madrid bis an die Küste gefahren und so blieb ihr schließlich nichts anderes übrig, als mit ihm auszugehen. Irgendwann zwischen Vorspeise und Hauptgang erzählte sie ihm von Carmen – und das, obwohl sie nicht einmal mit Maite darüber gesprochen hatte. Dann fing sie mitten im Lokal an zu heulen. Roberto war geschockt. Schnell änderte er seine Taktik vom Sprüche klopfenden Macho zum einfühlsamen Zuhörer, doch bevor er mit seinem Steak fertig war, wurde ihm anscheinend klar, dass es keinen Sinn mehr hatte, sich weiter an ihr die Zähne auszubeißen. Er sagte kaum noch etwas und bezahlte, ohne Kaffee oder Nachtisch zu bestellen. Das war ihr einziges Date in den letzten beiden Jahren.
Das Hotelpersonal war ihr gegenüber sensibler. Nicht einmal Antonio aus der Cafeteria hatte es je ernsthaft bei ihr versucht. Vor ein paar Monaten war Antonio für kurze Zeit mit Maite zusammen gewesen, ebenso mit einer der jungen Kellnerinnen aus dem Hotelrestaurant und einem der Mädchen aus dem Wellnessbereich. Aber weibliche Hotelgäste waren ihm bedeutend lieber, weil sie eben stets wieder abreisten. Das Hotelpersonal blieb manchmal länger, als es Antonio offenbar lieb war.
Carlos, ihr Chef, hatte sich seit seiner Scheidung auch verändert. Er war ihr gegenüber in letzter Zeit um einiges freundlicher, und wenn er ihr etwas auftrug, hieß es mittlerweile bereits: »Würdest du bitte … « anstatt wie früher: »Mach hier und sofort!« Überhaupt, wenn es etwas Wichtiges zu besprechen galt, dann tat er das nur noch mit ihr. Die anderen nannten sie schon »die rechte Hand des Chefs« – wohlwissend, dass dies kein besonders erstrebenswerter Job war.
Gerade der heutige Tag aber hatte ihr wieder gezeigt, dass Carlos der letzte Mensch war, mit dem sie etwas anfangen wollte: Er war einfach grob und herzlos, darum hatte sich wohl auch seine Frau von ihm getrennt. Dem Personal trat er meistens garstig gegenüber. Keiner konnte ihn leiden, was ihn aber selbst nicht weiter zu stören schien. Er war der Direktor und konnte in seinem »Palast« schalten und walten wie ein König. Das »Palace« gehörte zwar zu einer internationalen Hotelgruppe mit Sitz in den USA, aber von der unmittelbaren Konzernleitung ließ sich kaum jemals jemand hier blicken. Für die gab es zweifelsohne spannendere Metropolen als den andalusischen Urlaubsort Almuñécar mit seinen fünfundzwanzigtausend Einwohnern und bestimmt auch umsatzstärkere Häuser als das »Costa Tropical Palace«. Nur Señor Maldonado, der Chef der spanischen Dependance der börsennotierten Hotelgruppe, der die Verantwortung über zwölf Hotels in Spanien innehatte, kam zwei oder dreimal im Jahr nach Almuñécar, um nach dem Rechten zu sehen.
Joana zappte noch einmal durch die Programme: Real Madrid führte 2:1 gegen Manchester United. Sie schaltete den Fernseher aus und holte sich eine Aspirin aus dem Küchenschrank. Dabei musste sie sich an der Arbeitsplatte festhalten, weil ihr schwarz vor Augen wurde. Joana senkte den Kopf, kniff sich an die Nasenwurzel und schloss die Augen. Eine Weile stand sie so, bis ihr Handy klingelte. Das konnte nur Inmaculada sein. Sie überlegte, es klingeln zu lassen, aber vielleicht gab es ein Problem. Sie wankte zum Couchtisch im Wohnzimmer. »Unbekannter Teilnehmer« stand auf dem Handy-Display. Joana lehnte sich gegen die Wand und schloss die Augen, um das Schwindelgefühl loszuwerden.
Was ist nur los mit mir?
Dann nahm sie den Anruf entgegen.
»Hallo?«
Es rauschte, als blase jemand in die Sprechmuschel.
»Hallo …?«, versuchte sie es abermals.
Eine Frau schniefte. »Hallo … hallo, wer spricht da?«
Joana ging in die andere Ecke des
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