Pata Negra: Kriminalroman (German Edition)
leche.
Während sie warteten und derweil auf zwei Barhockern Platz genommen hatten, verfolgte Joana, wie Antonio mit geübter Lässigkeit die Getränke zubereitete. Schon seit der Hoteleröffnung arbeitete Antonio hier. Er stammte zwar aus Sevilla, war aber vor Jahren mit seinen Eltern in den Nachbarort Salobreña gezogen. Wie seine muskulösen Arme und die geschwellte Brust überdeutlich zeigten, trainierte Antonio fast täglich im Fitnessstudio. Seine vormals schütteren Haare hatte er abrasiert. Jetzt trug er eine Glatze, die unter der Thekenlampe goldbraun glänzte. Antonio sprach ganz passables Englisch – kein Schulbankenglisch – sondern ein mithilfe nordeuropäischer Touristinnen angeeignetes »Schäkerenglisch«. Nicht wenige vom weiblichen Hotelpersonal, darunter auch Maite und noch zwei, drei andere junge Angestellte, wussten von dem japanischen Schriftzeichen, welches Antonio sich auf die linke Seite seines Hinterteils hatte tätowieren lassen.
Während Kilians Blick durch die Cafeteria schweifte, zwinkerte Antonio Joana in Hinsicht auf den Fremden unzweideutig zu.
»Antonio, das ist Kilian, der Bruder des Verstorbenen.«
Es war besser, jeden Hoteltratsch von vornherein zu vermeiden.
»Oh!«, sagte Antonio, wischte sich die Hand an der Hose ab und streckte Kilian die kräftige Pranke entgegen, »I am very sorry for your loss.«
Kilian nahm dankbar an und nickte.
»Joana«, fuhr Antonio fort und stellte die Tassen mit dem Kaffee auf den Tresen, »sag ihm doch, dass ich seinen Bruder kurz kennengelernt habe.«
Kilian wollte mehr wissen und Joana übersetzte das folgende Gespräch.
»Na gut, ›kennengelernt‹ ist dann vielleicht doch ein bisschen übertrieben«, meinte Antonio und rieb sich das Kinn. »Sein Bruder bestellte ein Bier und ein Schinkensandwich.« Er beugte sich vor und klopfte mit zwei Fingern gegen die Glasvitrine, in der eine Reihe belegter Brote aufgestapelt nebeneinander lagen. »Ich schätze, er blieb ungefähr eine Viertelstunde, dann zahlte er und ließ zwei Euro Trinkgeld liegen – recht spendabel. Danach habe ich ihn nicht wieder gesehen. Genauso hab ich es auch der Guardia Civil erzählt.«
Kilian nickte und wandte sich an Joana.
»Könnten Sie ihn bitte fragen, ob ihm an meinem Bruder irgendetwas Besonderes aufgefallen ist. Sah er vielleicht krank aus?«
Antonio überlegte kurz, schüttelte aber dann den Kopf. Kilian leerte seinen Kaffee.
Ob Antonio sonst noch etwas an Xaver aufgefallen sei, wollte er von Joana wissen. Hatte er von der Reise gesprochen? War er allein?
Antonio dachte nach. »Nein, von der Reise hat er nichts erzählt. Und allein war er auch. Sonst ist mir nichts aufgefallen. Waren ja auch noch andere Gäste da, um die ich mich kümmern musste.« Er wandte sich an Joana und deutete auf den Hocker. »Sein Bruder saß übrigens da, wo du jetzt sitzt.«
Joana rutschte herunter und starrte auf den Sitzplatz, als hätte sie dort eben einen Geist gesehen.
Antonio fuhr fort, als sei ihm nichts aufgefallen. »Das einzig Seltsame war vielleicht, dass sein Bruder überhaupt hier in der Cafeteria aß. Die Pauschalgäste essen ja alle im Restaurant. Aber wenn ich’s recht bedenke – sein Bruder sah auch nicht aus wie ein Pauschalgast.«
Das Gespräch schien beendet, Kilian zückte seine Geldbörse, aber Antonio lehnte mit einem breiten Lächeln ab. Sie bedankten sich für den Kaffee und wandten sich dem Ausgang zu.
»Moment!«, rief Antonio hinter ihnen. »Jetzt fällt mir doch noch was ein. Sein Bruder hatte einen Reiseführer dabei und da war die Seite mit ›Ronda‹ aufgeschlagen.«
»Die Stadt?« fragte Joana.
Antonio nickte. »Das fiel mir auf, als ich ihm das Schinkenbrot brachte. Ich sagte so was wie: ›Schöne Stadt!‹, und er wollte wissen, ob ich schon mal dort gewesen bin. Bin ich aber nicht. Na ja, und er meinte dann, dass er es ja bald selbst herausfinden würde und dann würde er mir erzählen, wie es dort gewesen ist. Sein Bruder war ein netter Mensch, sag ihm das, Joana!«
Sie bogen in Kilians Mietwagen, einem silbernen VW-Polo, auf die N340 ein, die Hauptstraße, die durch Almuñécar führte. Erst, als sie an einer roten Ampel zu stehen kamen, machte Kilian wieder den Mund auf. Joana konnte sich denken, wie aufwühlend es sein musste, zu erfahren, was sein Bruder in seinen letzten Stunden alles getan hatte, auch wenn es eigentlich nur Banalitäten gewesen waren: Bier trinken, Sandwich essen, Reisepläne schmieden, mit dem Kellner
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