Pata Negra: Kriminalroman (German Edition)
Fahrwasser durch den azurblauen Atlantik zogen. Am Sandstrand, der über den Horizont des Fotos hinausreichte, neigten sich dürre Palmen mit ihren wie bei einem Hahn nach hinten gekämmten Wedeln bedenklich tief auf die wenigen Strandbesucher hinab. Das musste die europäische Hauptstadt des Windes sein, so zumindest wurde der Ort Tarifa an der atlantischen Küste in Xavers Reiseführer gepriesen.
Es folgten nun mehrere Aufnahmen vom Strand und – mit maximalem Zoom aufgenommen – Fotos, die einzelne Surfer bei Sprüngen über die Wellen darstellten. Ein von Pinien und Palmen gesäumter Hotelpool stellte das Motiv des nächsten Fotos dar. Kilian suchte nach der entsprechenden Abrechnung und lächelte darüber, dass sein Bruder an diesem Ort ausgerechnet in einem Hotel mit dem Namen »Hurricane« eingecheckt hatte. Xaver blieb dort nur eine Nacht, weil Surfen außerhalb des Internets nicht sein Ding und es ihm darüber hinaus wohl zu windig in dieser Gegend war. Nun folgten weitere Fotos von weitläufigen Stränden. Kilian wunderte sich, dass trotz schönsten Wetters auf keinem dieser Fotos auch nur eine einzige Person zu sehen war. Die Wassertemperatur war für April im Atlantik zum Baden wohl noch zu kalt, aber zum Joggen, zum Spazierengehen mit dem Hund oder zum Drachen steigen lassen? Hier stand auch kein einziges Bauwerk, keine Strandbude, kein Hotel, nur windgeformtes Buschwerk. Er schlug den entsprechenden Abschnitt im Reiseführer nach, wo er ein identisches Foto fand, unter dem »Atlantischer Küstenabschnitt zwischen Tarifa und Cádiz« geschrieben stand. Kilians Blick verlor sich in dieser Strandaufnahme. Wie wäre es, jetzt dort mit Joana entlangzuschlendern und alle Sorgen zu vergessen? Beide barfuß. Sie mit einem wehenden weißen Kleid, welches im Gegenwind ihre Figur betonte, er mit der Hand um ihre Schultern, vor Glück schwebend, sodass kaum Spuren im Sand zurückblieben … bis sie stehen blieb, ihn sanft an sich zog, sich die tanzenden Locken aus dem Gesicht streifte und ihm ihren leicht geöffneten Mund entgegenstreckte …
Kilian wischte seine Handflächen an den Jeans ab, blätterte auf Seite 149 weiter und zwang seine Gedanken wieder zurück in die Realität: Er war traurig über Xavers Tod und nicht verliebt in Joana! Das erste Digitalfoto der Stadt Cádiz zeigte eine Kathedrale, deren Ausmaße die umstehenden Gebäude wie Hundehütten aussehen ließen. Verglichen mit den Grautönen eines deutschen Doms kam ihm diese Kathedrale vor, als hätte sie die ständige Sonne ausgebleicht. Oder – vielleicht gab es in dieser Stadt keine Tauben, die auf die beiden Türme und die goldglänzende Kuppel über Jahrhunderte hinweg ihren Kot abwarfen. Von den Gassen dieser Stadt am Atlantik – einer der ersten Befestigungen der Iberischen Halbinsel – und, wie es der Reiseführer ausdrückte, vor Jahrhunderten Sprungbrett in die neue Welt, hatte sein Bruder elf Fotos gemacht. Vorwiegend von Gebäuden, die den Eindruck erweckten, Christoph Kolumbus könnte jeden Moment mit einer Seekarte unter dem Arm vor die Tür treten.
In Cádiz nächtigte Xaver in einer Herberge, für die er mit Frühstück nur 47 Euro zahlte. Im Gegensatz zur Unterkunft sparte er in Cádiz nicht beim Abendessen: Er bestellte einen Pulpo a la Gallega , was auch immer das bedeuten mochte, und ein Secreto Ibérico , was Kilian als »Iberisches Geheimnis« übersetzte. Dazu trank er eine Flasche Rioja Faustino V und bezahlte letztlich 65 Euro. Die nächste Abrechnung stammte von einer Tankstelle nahe einem Ort, der sich Jerez de la Frontera nannte. Kilian studierte die Karte und konnte nachvollziehen, dass sein Bruder der Autobahn E5 in Richtung Sevilla gefolgt war. Für Sevilla fand er mehrere Kartenabrechnungen und in dieser Stadt blieb Xaver für zwei Nächte: Mittwoch, den 13. April und Donnerstag, den 14. April. Kilian suchte im Reiseführer nach Sevilla und blätterte die zwei Dutzend Seiten durch, die sich der größten Stadt Andalusiens widmeten. Ein Foto im Reiseführer zeigte eine Gruppe Flamenco-Tänzerinnen mit bodenlangen Kleidern, züchtig geknoteten Haaren und kühlen Blicken, die jedoch pure Erotik ausstrahlten. Auf der nächsten Seite folgte das Bild einer Stierkampfszene, in der ein blutbefleckter Kämpfer mit einem abgeschnittenen Stierohr wedelte und Handküsse ans Publikum verteilte. Kilian blätterte um. Ein Foto zeigte einen üppig gedeckten Restauranttisch, dem zwei Seiten an Empfehlungen folgten, wo man in
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