Pata Negra: Kriminalroman (German Edition)
Wohnzimmerfenster. Der Spalt zwischen Sims und Jalousien war kaum mehr als eine Hand breit, dahinter schien es dunkel, trotzdem bildete er sich ein, Schatten zu sehen – und ein bläuliches Flackern, wie in einer donnergrollenden Nacht. Die Lichtreflexe konnten nur von einem laufenden Fernseher stammen!
Kilian lief über die Straße und betrat den Innenhof des Gebäudes. Eine Frau kam aus dem Portal Nummer III und Kilian sprintete, damit die Tür nicht vor ihm ins Schloss fiel. Dann nahm er jeweils drei Treppenstufen auf einmal, bis er schwer atmend vor der grünen Fußmatte stand, über die er vor zwei Tagen noch gestolpert war, als er den Notärzten auf den Flur folgte.
Kilian hielt den Atem an, legte sein Ohr an die Tür und lauschte. Aus dem Wohnzimmer drang hektisches Stimmengewirr: Gezeter wie in deutschen Talkshows am Nachmittag, nur auf Spanisch.
Er klingelte. Nichts.
Dann klopfte er und wartete eine Weile lang vergeblich, ehe er seinen Finger für zehn Sekunden auf der Klingel ließ. Schließlich ein Aufschrei, der die Fernsehdiskussionen der spanischen Jugend überstimmte: »Mamá!«
Die Tür wurde aufgerissen, Joana starrte ihn einen winzigen Moment lang an, dann stieß sie ihn zur Seite. »¿Quién ha tocado el timbre? ¿Mi madre?« Sie wandte den Kopf und suchte den Flur ab.
»Was?«
» Joder , hast du eben geklingelt?«, keuchte sie.
»Ja, entschuldige – ich dachte, deine Mutter …«
»¡Mierda!« Sie stampfte mit dem Fuß auf den Boden. »Dasselbe dachte ich auch gerade!«
Joana schleppte sich zurück in die Wohnung und stellte den Fernseher ab. Kilian schloss die Tür und setzte sich neben sie auf das Sofa.
»Kilian, sorry, ich habe wohl geschlafen. Ein schrecklicher Albtraum. Unten in der Apotheke haben sie mir Tabletten und Beruhigungspillen gegeben. Was machst du hier?«
»Ich habe etwas in der Stadt besorgt und mich verlaufen. Dann stand ich plötzlich vor diesem Gebäude und sah, dass der Fernseher an war. Ich dachte, deine Mutter …«
Joana schüttelte den Kopf. »Nein, nichts! Die Guardia Civil sucht sie jetzt anscheinend überall. Heute Morgen hab ich das Gleiche getan, bis ich nicht mehr konnte.« Sie rieb sich die Augen.
Kilian nickte. Er hatte schon den ganzen Tag lang gehofft, Joana über den Weg zu laufen, aber jetzt saß er beklommen neben ihr und wusste nicht, wie er sie trösten oder wie er ihr Mut machen konnte. »Soll ich besser wieder gehen oder kann ich irgendetwas für dich tun?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Danke, dass du gekommen bist. Du siehst, mir geht’s miserabel und …«, sie zupfte an ihren Locken und mühte sich ein Lächeln ab, »und ich sehe auch beschissen aus, aber du kannst tatsächlich etwas für mich tun.«
Kilian nickte. Er würde in diesem Moment so ziemlich alles für sie tun.
»Bitte bleib hier und erzähl mir was«, fuhr Joana fort. »Lenk mich ab, sonst werde ich verrückt. Magst du Kaffee?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie in die Küche. Kilian sah ihr nach. Er, der introvertierte und deprimierte Kilian Huber, würde sich die Zunge staubig reden, wenn er ihr damit helfen konnte.
Während die Kaffeemaschine rumorte und Joana in der Zwischenzeit im Bad verschwand, überlegte er sich, was er ihr alles erzählen sollte. Fast alles, entschied er, und wurde augenblicklich so nervös, als müsse er vor versammeltem Publikum ein Referat aus dem Stegreif halten. Aber das Gefühl legte sich, als Joana mit dem Kaffee und frischerem Teint zurückkam. »Wovon soll ich dir erzählen?«
»Erzähl mir von dir!«
»Ich kann dir aber nicht garantieren, dass mein Leben für diesen Zweck spannend genug ist.«
»Unwichtig. Die meisten Menschen verschweigen ohnehin ihre spannendsten Erlebnisse, weil sie sich im Nachhinein dafür schämen. Dafür erzählen sie dir langweilige Anekdoten, nur weil diese sie eher ins rechte Licht rücken als die peinlichen, obwohl diese sicher mehr Unterhaltungswert haben.«
Kilian nickte. »Stimmt, und du hast recht. Wie mit deiner letzten Behauptung.«
»Welcher Behauptung?«
»Mit meinem Bruder. ›Man kennt nie jemanden wirklich ‹ – nicht mal seinen eigenen Bruder.«
Joana trank von ihrem Kaffee.
»Weißt du was?« Kilian gab einen Löffel Zucker in den Kaffee und rührte lange um, ehe er fortfuhr: »Ich habe ihn tatsächlich nicht gekannt, nur oberflächlich.«
»Du glaubst jetzt also auch, dass sich Xaver das Leben genommen hat?«
»Nein, Joana, ganz im Gegenteil. Ich habe seine Reise
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