Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten
Aufforderung, sich zu treffen.
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DER PRIOR MAHNTE die Klostergemeinde im Kapitel oft, dass es nach der Ordensregel Zeiten gab, in denen gute Worte aus Achtung vor dem Schweigen ungesagt zu bleiben hatten.
Mit diesem Rat im Kopf sprach Anselm kaum, als er mit George in die Vault Tagesstätte ging. Debbie Lynchwood führte sie in ein schlicht eingerichtetes Schlafzimmer abseits vom Trubel des Aufenthaltsraums und zog sich zurück. Auf einem Sideboard standen eine Auswahl an Spielen und Puzzle in abgegriffenen Kästen. George betrachtete sinnierend die Deckel. »Riley wusste, dass ich da war«, sagte er. »Er hat zu mir gesprochen.«
Anselm nickte dem runden Rücken dieses schlanken, anständigen Mannes in seinem anständigen Blazer mit Krawatte zu. Adams Sünde bestand laut Genesis darin, dass er wie Gott sein wollte, um die große Ordnung der Dinge zu lenken, in die er auf wunderbare Weise hineingeboren war; er wollte wissen, warum gut gut und böse böse war; vielleicht wollte er auch ein paar diskrete Änderungen vornehmen. Es gibt Zeiten, da möchte ich auch wie Gott sein, dachte Anselm: nur lange genug, um den Fall dieses Mannes zu verstehen und etwas dagegen zu unternehmen.
George suchte sich ein Puzzle aus – eine mittelalterliche Landkarte der damals bekannten Welt.
Anselm ließ ihn allein und fuhr mit dem Bus nach Camberwell. Wieder führte man ihn in den Garten mit der Kastanienallee. Schwester Dorothy saß an derselben Stelle am Ende des Weges. Karierte Wolldecken hielten sie warm; die braune Pakol war tief über die Ohren gezogen. Sie warf Anselm einen Blick zu, als er sich neben sie auf eine Steinbank setzte, und sagte: »Sie war ein sehr gescheites Mädchen, aber aufsässig. Anfangs hielt sie sich nie an die Regeln. Die ersten Monate hatte sie jeden Sonntagnachmittag Arrest. Da habe ich sie immer mit Päckchen aus dem Süßwarenladen besucht.«
»Ich nehme an, Sie meinen Elizabeth Steadman, nicht Elizabeth Glendinning«, sagte Anselm.
»Was für ein dummer Fehler«, antwortete sie und schloss die Augen. Im schräg einfallenden Licht der tief stehenden Sonne wirkte die Bruchstelle in ihrer Nase dunkel und grotesk.
»Ich habe mich davon täuschen lassen«, sagte Anselm.
Schwester Dorothy hatte sich zwar geschlagen gegeben, war aber gerissen genug, abzuwarten und zu sehen, wie viel Terrain sie verloren hatte. Anselm schob die Arme in seine weiten Ärmel und schlang die Hände um seine Ellbogen. Es war kalt. Drei Raben beobachteten ihn von den Ästen einer Eiche hinter der Klostermauer.
»Ich denke mir, es war abends, und draußen war es schon dunkel«, sagte Anselm. »Elizabeth war allein in St. John’s Wood im Grünen Zimmer. Sie schlug Die Nachfolge Christi auf – ein Buch, das sie vielleicht bei ihrer letzten Begegnung mit Ihnen bekommen hatte – und sie schnitt ein Loch in die Seiten, das tief genug für einen Schlüssel war. Wesentlich später kam sie mit einem Zweitschlüssel nach Larkwood und bat mich, ihn zu benutzen, falls sie sterben sollte. Als Letztes sagte sie zu mir: ›Man kann seinen Kindern nicht alles erklären. Hilfst du Nicholas, wenn nötig, zu verstehen?‹ Zuerst dachte ich, sie meinte, ich sollte ihm helfen, mit seiner Trauer umzugehen. Dann dachte ich, ich sollte ihm erklären, dass man nicht Anwalt sein kann, ohne gewisse Kompromisse einzugehen. Aber jetzt fürchte ich, dass sie etwas völlig anderes meinte …«
Schwester Dorothy kapitulierte mit leisem Stöhnen. »Mr. Kemble sagte schon, dass Sie vielleicht kommen würden.«
Die Raben hüpften auf höhere Äste und flogen dann in verschiedene Richtungen davon.
»Sie kennen Roddy?« Anselm hatte ein Gefühl, als wäre er in eine vertraute Straße eingebogen, aber in einem fremden Land herausgekommen.
»O ja, wir sind alte Freunde«, sagte Schwester Dorothy. »Ich habe ihn bei einem Gefängnisbesuch kennen gelernt. Meine Haube faszinierte ihn. Damals sah sie noch aus wie ein großes Zelt. Er wollte wissen, wie sie befestigt ist und ob sie bequem ist. Ich war überzeugt, dass er neidisch war.«
»Er hat Sie nie erwähnt.«
»Das hoffe ich sehr.«
»Wieso?«
»Weil wir das so vereinbart haben.«
Anselm bemühte sich, seine Intuition seinen Fragen nicht vorauseilen zu lassen. »Schwester, haben Sie Elizabeth mit Mr. Kemble bekannt gemacht?«
»Nicht so ganz.« Schwester Dorothy schien stolz auf ihre Machenschaften. »Ich habe Roddy alles über Elizabeth erzählt, als sie ihre Ausbildung zur Prozessanwältin
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