Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten
nach Hause bringen, wenn nötig, auf einem anderen Weg.«
18
DIE NACHT WAR hereingebrochen, und plötzlich verspürte George das Bedürfnis, in eine Notunterkunft zu gehen. Als Einrichtungen, die sich um Obdachlose kümmerten, konnten sie es mit dem Bonnington zwar nicht aufnehmen, aber sie hatten drei Dinge damit gemeinsam: ein Dach, viele Betten und eine funktionierende Heizung. Diese Kombination besaß ihre Reize, wenn es – wie jetzt – so nass war, dass die Luft wogte wie der Atlantik. Die Stadt unterhielt diese Nachtasyle. In manchen musste man die ganze Nacht wach liegen und seine Schuhe an die Brust drücken; sobald man die Augen schloss, war man seine Schnürsenkel los. Das erste Mal, als George in einer Notunterkunft in Camden übernachtet hatte, hatte er ein Bett in der Nähe einer weißen Backsteinmauer bekommen, an der als Farbtupfer hier und da Poster hingen. In jener Nacht hatte er einen alten Mann getroffen, der ihm eine alte Geschichte erzählte.
Der Mann hatte verfilzte Haare und einen Mantel, der ihm fast bis auf die Schuhe reichte. Ein blaurot gestreifter Schal hing auf seinem Rücken herunter. Er betrachtete ein Bild von Wanderern, die auf einem Bergrücken entlanggingen: Das Blau des Himmels war anders als das der Berge. In diesem Nachtasyl mit angeschlagenen Bettgestellen, Gestank und Geschrei wirkte es geradezu himmlisch. Darunter stand in roten Lettern »Andorra«.
Der Mann murmelte: »Man könnte meinen, es sei gar nicht da.« Er drehte sich um und sagte, etwas überrascht: »Warum bist du hier?«
»Ich bin müde«, antwortete George.
»Dann bist du hier falsch.«
»Und was ist mit dir?«
»Mir gefallen die Bilder. Du bist neu hier, stimmt’s?« Er meinte nicht die Notunterkunft; er meinte die Straße.
»Ja.« George bekam feuchte Augen, aber er biss die Zähne zusammen. Er hatte nicht mehr das Recht zu weinen.
Der Mann hieß Nino. Früher hatte er als Hilfspolizist gearbeitet. Nach seiner »Frühpensionierung« hatte er sich einen Leserausweis für jede Bibliothek besorgt, die keinen festen Wohnsitz verlangte. Er hatte das Bett neben Georges. Als das Licht ausging, flüsterte Nino: »Hast du schon mal von Pandora gehört?«
»Ja. Sie hatte eine Büchse.«
»Stimmt. Hesiod sagt, sie war die erste Frau, die je gelebt hat. Weißt du, woraus sie gemacht war?«
»Nein.«
»Aus Ton. Weißt du, was in der Büchse war?«
»Wespen?«
»Nein. Das verwechselst du mit dem sprichwörtlichen Wespennest, was übrigens eine Menge mit dieser Sache zu tun hat, das versichere ich dir. Aber bevor ich weiterrede, will ich dir gleich sagen, dass man Pandora oft verteufelt hat – das habe ich in sämtlichen Bibliotheken in Nordlondon nachgelesen. Der klassische Geist tendiert ebenso wie die antike Religion dazu, Frauen die Schuld zu geben, wenn es um moralische Katastrophen geht. Von dieser Tradition distanziere ich mich nachdrücklich.«
Wieder hätte George am liebsten geweint. Er fühlte sich wie ein kleiner Junge, dem man abends eine Geschichte vorliest, die er nicht ganz versteht. Sein Opa David – dessen Namen er getragen und abgelegt hatte – war ein wunderbarer Vorleser gewesen. Als George Nino zuhörte, konnte er sich große Bilder in einem großen Buch vorstellen: eine wunderschöne Prinzessin mit langem, goldenem Haar, die ein kleines goldenes Gefäß in ihren zarten Händen hielt.
Nino sagte: »Also in dieser Büchse war alles Böse, was man sich vorstellen kann. Verstehst du?«
»Ja.«
»Dann machte ein äußerst dummer Bursche den Deckel auf. Hörst du mir zu, du Neuling der Straße?«
»Ja.« George hatte angefangen zu weinen. Er biss in sein Kissen und krallte sich mit den Händen in die Matratze und in sein Bein. Von weit her war Gebrüll zu hören. Jemand schrie bei einer Prügelei.
»Das Böse entwischte«, sagte Nino leise, »und richtete großes Leid an. Aber weißt du, was ganz unten in der Büchse war?«
George wagte nicht, das Kissen von seinem Mund zu nehmen. Aber Nino würde nicht weiter sprechen, bevor er eine Antwort von George bekommen hätte. »Keine Ahnung«, keuchte er.
Ninos Flüstern wurde so leise, dass George den Kopf heben musste. »Das Letzte, was ausgerechnet von diesem unvorstellbaren Ort kam, war die Hoffnung.«
George blinzelte und beschloss, noch ein bisschen länger zu warten. In seinen Augen brannten Tränen.
TEIL 3
DER WEG EINES JUNGEN
1
»Ich bin nicht blöd, Arnold«, sagte Nancy Riley zu ihrem Hamster. »Es passt alles
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