Patterson James
hereinkommen konnten. Aber der Kirchenraum war
riesig und trotz der vielen Menschen übersichtlich. Kein
schlechter Zufluchtsort. Ein guter Ort.
»Was machen diese Leute?«, fragte Angel flüsternd.
»Ich glaube, sie beten«, flüsterte ich zurück.
»Dann beten wir auch«, sagte Angel.
»Äh …« Aber sie marschierte bereits zu einer leeren
Bankreihe, schob sich in die Mitte und holte das Kniebänkchen
hervor. Ich sah, wie sie die anderen Menschen musterte. Dann
nahm auch sie die richtige Stellung ein. Sie kniete, faltete die
Hände und neigte den Kopf.
Ich wette, sie betete für Celeste.
Wir anderen nahmen in der Reihe hinter ihr Platz. Verlegen
knieten wir nieder. Iggy berührte mit der Hand leicht wie eine
Feder die Umrisse des Gasman, dann ahmte er dessen Haltung
nach.
»Worum beten wir?«, fragte er leise.
»Äh – um alles, was du dir wünscht, nehme ich an.«
»Wir beten zu Gott, richtig?«, wollte sich Nudge
vergewissern.
»Ja, ich glaube, das ist so richtig«, sagte ich, obwohl ich
eigentlich auch nicht genau Bescheid wusste. Aber dann
beschlich mich ein eigenartiges Gefühl: Wenn man je um etwas
beten würde, dann war hier der richtige Ort. Mit dem hohen
Gewölbe, all dem Marmor und der Pracht und der Religion, die
uns umgaben, war ich fast sicher, dass hier ein Ort war, wo man
auf sechs heimatlose Kinder durchaus hörte.
»Lieber Gott«, sagte Nudge leise. »Ich möchte richtige Eltern.
Aber ich will, dass sie mich auch wollen. Ich will, dass sie mich
lieben. Ich liebe sie jetzt schon. Bitte, sieh, was du tun kannst.
Vielen, vielen Dank. Alles Liebe. Nudge.«
Okay, ich kann nicht behaupten, dass wir im Beten Profis
waren – oder in irgendeiner anderen Sache.
»Bitte, schick Celeste zu mir zurück«, flüsterte Angel mit fest
geschlossenen Augen. »Und hilf mir, dass ich später mal wie
Max werde. Und mach, dass wir alle sicher sind. Und tu was
gegen die Bösen, damit die uns nicht mehr wehtun können.«
Amen, dachte ich.
Überrascht sah ich, dass auch Fang die Augen geschlossen
hielt. Aber seine Lippen bewegten sich nicht, und ich hörte auch
nichts. Vielleicht ruhte er sich nur aus.
»Ich möchte sehen können«, sagte Iggy. »Wenigstens ein
bisschen, so als ich noch klein war. Und ich möchte Jeb in den
Arsch treten. Danke.«
»Gott, ich möchte gern groß und stark sein«, flüsterte der
Gasman. Es schnürte mir die Kehle zu, als ich sein feines
blondes Haar betrachtete. Auch er hatte die Augen fest
geschlossen. Er war erst acht, aber wer wusste, wie bald sein
Leben zu Ende sein würde.
»Damit ich Max helfen kann und anderen Menschen auch.«
Ich schluckte schwer und hatte große Mühe, die Tränen
zurückzuhalten. Ich atmete schwer ein und aus und blickte
schnell dreihundertsechzig Grad umher. Die gesamte Kathedrale
war ruhig, friedlich, frei von Erasern.
Hatte ich vorhin tatsächlich Jeb bei den Bullen gesehen?
Waren die Bullen echte Polizisten oder Leute im Auftrag der
Schule – oder vom Institut? Was für ein Pech, dass Angel
Celeste hatte fallen lassen. Mein Gott, das Kind hatte endlich
etwas, das es liebte, und dann riss ihr das Schicksal das wieder
aus den Händen.
»Bitte, hilf Angel wegen Celeste«, murmelte ich unwillkürlich.
Dann wurde mir bewusst, dass ich die Augen geschlossen hatte.
Ich hatte keine Ahnung, mit wem ich sprach – ich hatte
eigentlich nie darüber nachgedacht, ob ich an Gott glaubte.
Hätte Gott zugelassen, dass die Weißkittel in der Schule uns das
antun durften, was sie mit uns gemacht hatten? Wie
funktionierte das genau?
Aber jetzt war ich schon mal dabei, also fuhr ich fort. »Und
hilf mir, eine bessere Führerin zu sein, ein besserer Mensch«,
sagte ich und bewegte lautlos die Lippen. »Mach mich tapferer,
stärker und klüger. Hilf mir, dass ich meinen Schwarm
beschütze. Hilf mir, Antworten zu finden. Äh, danke.« Dann
räusperte ich mich.
Ich habe keine Ahnung, wie lang wir schon in der Kathedrale
waren – bis meine Kniescheiben taub wurden.
Es war, als hätte sich ein wunderbarer Friede über uns
gebreitet, so wie eine sanfte Brise Federn glättet.
Uns gefiel dieses Haus. Wir wollten nicht weg.
I
ch überlegte ernsthaft, die Nacht in der Kathedrale zu
verbringen, uns hier zu verstecken und zu schlafen. Es gab
hohes Chorgestühl. Vielleicht konnten wir es tun. Ich wandte
mich an Fang.
»Sollten wir …« Ich brach ab. Ein Schmerzstoß durchbohrte
meinen Kopf. Die Schmerzen waren nicht so schlimm wie
zuvor,
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