Patterson James
Cincinnati geborenen Charlotte
stach.
»Nein. Ich spüre überhaupt nichts«, antwortete Charlotte.
O Gott, sie hätte am liebsten laut aufgelacht. Ihre jahrelange
Angst vor Krankenhäusern war vollständig verflogen, und ihre
Aufregung drohte überzuschäumen. Es geschah etwas
Unglaubliches, etwas ganz und gar Außergewöhnliches mit ihr.
Unvermittelt roch Charlotte eine salzige Brise, wie vom Meer.
War das möglich? Woher kam sie? War das nicht ein absolut
wahnsinniges Gefühl? Das war es, ohne den geringsten Zweifel.
Dann hörte sie Seemöwen schreien. Seemöwen – sie war ganz
sicher.
Und schließlich sah sie die SS Nautica vor sich aufragen, neun
Stockwerke voller glänzend weißem Luxus. Sie blickte
vollkommen erstaunt und verwirrt an sich herab und stellte fest,
dass sich alles an ihr verändert hatte. Wann war dieses Wunder
passiert? Sie trug ein dünnes rotes Seidenkleid und rote, mit
Bergkristallen verzierte Slingpumps. Ihre Absätze erzeugten ein
angenehmes Klackern, als sie die Gangway hinaufstieg, um sich
zum Hauptdeck der Nautica zu begeben. Das Deck war mit
Teakholz beplankt, und überall standen Stühle aus dem gleichen
Material herum.
Am Ende der Gangway stand ein blonder Steward mit einer
schicken Schirmmütze und einer frisch gebügelten, makellosen
blauen Uniform. Er reichte Charlotte einen Drink in einem
Kristallglas und hieß sie willkommen an Bord. »Miss
Donahue«, sagte er. »Es ist mir eine Freude.« Er kannte sogar
ihren Namen!
Er zwinkerte ihr zu, doch Charlottes Gedanken waren bereits
woanders. Der Kapitän, ganz in Weiß, spähte von der Brücke zu
ihr herab. Es bestand nicht der geringste Zweifel – er
beobachtete sie! Charlotte hob den Kopf und erwiderte schamlos
seinen Blick, sah ihm direkt in die silber-blauen Augen.
Lächerlich oder nicht – sie spürte eine Woge des Verlangens.
Ihre Haut fühlte sich angenehm warm an – bis Dr. Kane erneut
sprach.
Spielverderber!
»Können Sie mich noch hören, Charlotte?«
Irgendwo an Deck hatte eine Steelband angefangen zu spielen.
Ein Lied, das Charlotte kannte – Mockingbird. Die Band war gar
nicht schlecht. Charlotte fühlte sich an Bob Marley erinnert. Mit
einer Spur von Jimmy Cliff vielleicht. Entschieden karibisch
jedenfalls.
»Miss Donahue?«
»Lassen Sie mich in Frieden, Dr. Kane«, antwortete Charlotte
und nahm einen großen Schluck von ihrem
Champagnercocktail.
»Mir geht es wunderbar. Mir fehlt absolut überhaupt nichts. Es
ist perfekt. Und nun lassen Sie mich in Ruhe, damit ich mich ein
wenig amüsieren kann.«
»Was trinken Sie?«
»Es ist rosa«, antwortete Charlotte. »Ich glaube, es ist
Champagner mit Passionsfrucht. Es schmeckt köstlich.«
Der Drink war süß und stark und machte sie ein wenig
benommen. Sie wusste nicht, wohin sie als Nächstes sehen oder
was sie zuerst unternehmen sollte. Der feurige Rhythmus der
Fässer und Tonnen rief nach ihr. Die Band hatte bereits einen
richtig hübschen Groove gefunden. Charlotte wollte tanzen. O
ja, tanzen wäre jetzt genau das Richtige! Mit dem Kapitän!
»Charlotte, gehen Sie zur Reling und sehen Sie nach unten. Ich
stehe in der Menge. Winken Sie mir bitte zu«, sagte Dr. Kane.
Sie war nicht sicher, aus welchem Grund, doch Charlotte tat,
wie ihr geheißen. Sie ging zur Reling und blickte hinunter auf
die winkende Menschenmenge, die zur Verabschiedung des
Schiffes und seiner Passagiere an den Pier gekommen war.
Während sie an der Reling lehnte, sah sie auf den tiefer
liegenden Decks die Rettungsboote, die leicht über die Seite
ragten.
Dort war er! Der sehr attraktive, wenn auch ein wenig
unterkühlte und zurückhaltende Dr. Kane. Er blickte zu ihr
hinauf.
»Auf Wiedersehen!« Sie hob die Hand, winkte dem Doktor zu
und fing an zu lachen. Sie lachte so sehr, dass sie kaum noch
aufhören konnte. Pinkfarbenes und babyblaues Konfetti segelte
durch die Luft. Leinen fielen schwer gegen die Seitenwand des
Schiffes. Das Nebelhorn blies dreimal, ein befriedigendes, tiefes
Bass-Signal.
» Bye-bye! « , rief Charlotte übermütig.
» Bon voyage, Charlotte«, sagte die Stimme des Doktors in
ihrem Kopf. »Es tut mir Leid, dass Sie jetzt sterben müssen,
aber Sie helfen damit jemandem … jemandem, der unendlich
viel bedeutender ist, als Sie es jemals sein könnten.«
Dr. Ethan Kane beendete sein Gespräch mit der strohdummen
Charlotte und machte sich an die Arbeit. Der Chirurg hatte
Nerven aus Stahl und Hände, die womöglich noch ruhiger
Weitere Kostenlose Bücher