Patterson James
als wollten alle sie mit ihren
Blicken warnen.
Dann stand Sharon Ann da, den Blick ihrer eng stehenden
Augen direkt auf Andie gerichtet. »In mein Büro«, verlangte sie.
Ihr »Büro« war eine der beiden Toiletten, die beim letzen Mal
zum Ort für private Unterhaltungen bestimmt worden war.
»Hä?«
»In mein Büro, Ms. DeGrasse«, befahl Sharon Ann.
Langsam und mit rollenden Augen erhob sich Andie und
folgte der mürrischen Gerichtsdienerin in die enge Toilette.
»Glauben Sie nicht, ich wüsste nicht, was Sie vorhaben, Ms.
DeGrasse«, schnauzte Sharon Ann, sobald die Tür hinter ihnen
ins Schloss gefallen war.
»W-was soll ich denn vorhaben?«, stammelte Andie. »Ich
habe nichts gesagt, was nicht alle anderen da drin schon gedacht
hätten.«
Selbst ihre Schwester Rita hatte das gesagt, gleich als Erstes. Hast du denn keine Angst? Ich meine, sie kennen dich, Andie. Es
ist Dominic Cavello. Sie wissen, wo du wohnst. Du musst nicht
erst Mutter sein, um Angst zu haben. Nur ein Mensch. Der ganze
Auswahlprozess hat doch in aller Öffentlichkeit stattgefunden. »Hören Sie, Sharon Ann, ich …«
»Sie wollten sich von Anfang an vor Ihrer Pflicht drücken«,
fiel ihr Sharon Ann ins Wort. »Ich lasse nicht zu, dass jemand
die Geschworenen infiltriert. Ihrem Wunsch wird entsprochen –
Sie sind Geschichte, junge Frau.«
11
Mit rotem Kopf und etwas verlegen, aber auch verletzt setzte
sich Andie wieder ins Geschworenenzimmer. Ein paar Minuten
später wurde die Tür zum Gerichtssaal erneut geöffnet, und kurz
darauf sollte sie herausfinden, was die Gerichtsdienerin gemeint
hatte.
Sharon Ann schob ihren Kopf herein. »Wir sind noch nicht
ganz so weit.« Mit dem Finger bedeutete sie Andie aufzustehen.
»Ms. DeGrasse …«
Ein Schauer lief Andies Rücken hinab.
»Würden Sie bitte mitkommen? Ihre Sachen können Sie
mitnehmen.«
Andie erhob sich langsam und warf zum Abschied einen Blick
in die Runde. Sie war fertig hier!
Sie folgte Sharon Ann in den Gerichtssaal, in dem zwar völlige Stille herrschte, der aber zu ihrer Überraschung gerammelt
voll war. Alle Augen schienen auf sie gerichtet zu sein. Jetzt war
ihr die Situation wirklich peinlich, als ließe man sie in aller
Öffentlichkeit ins Büro des Chefs führen, der sie feuern wollte –
nur weil sie ihre Meinung gesagt hatte.
Sharon Ann ging mit ihr durch eine Seitentür hinter dem
Richtertisch. Ein Marshal bewachte den Flur. Sharon Ann
wedelte kurz mit der Hand. »Gehen Sie rein. Sie erwartet Sie.«
Andie betrat ein großes Büro voller Bücher. Richterin Seiderman blickte hinter ihrem mit Papieren übersäten Schreibtisch
auf.
»Ms. DeGrasse.« Sie blickte über den Rand ihrer Lesebrille
hinweg. »Ich habe gehört. Ihre Nervosität scheint Ihnen die
Zunge zu lockern.«
»Bitte?«
»Sie haben Probleme damit, den Mund zu halten, oder?« Die
Richterin blickte sie streng an. »Während der Auswahl mag es ja
noch spaßig gewesen sein, aber jetzt … jetzt stehen wir kurz vor
dem Beginn eines wichtigen Prozesses, nicht einer Theateraufführung. Ich kann mir unter den Geschworenen keine
Unruhestifter leisten.«
Andie ließ sich nicht unterkriegen. »Wenn Sie davon reden,
was ich da drin gesagt habe, denke ich, das war eine berechtigte
Frage.«
»Was, Ms. DeGrasse?« Richterin Seiderman blickte ungeduldig auf.
»Jeder hat bei der Auswahl unsere Namen gehört. Und wo wir
wohnen. Ob wir verheiratet sind oder nicht. Oder Kinder haben.
Jeder mit gesundem Menschenverstand würde sich Sorgen
machen. Die Leute stellen Fragen.«
»Die Leute?« Die Richterin zog die Augenbrauen hoch.
»Ich weiß nicht … meine Schwester, meine Mutter. Als ich
ihnen erzählt habe, dass ich bei dem Fall dabei bin. Das kann
Sie doch nicht wirklich überraschen.«
»Warum wir uns für welche Art und Weise entscheiden,
diesen Prozess zu führen, ist allein Sache des Gerichts, Ms.
DeGrasse. Sie brauchen nur zu wissen, dass wir die Ersten
gewesen wären, die sich Sorgen gemacht hätten, wären wir
davon ausgegangen, dass auch nur annähernd eine Gefahr
bestanden hätte.« Richterin Seiderman lehnte sich zurück und
griff zu einem Formular und einem Stift. »Sie wollten schon von
Anfang an nicht dabei sein, oder?«
»Ja, letzte Woche vielleicht, aber …«
»Aber was? Ich bin dabei, Ihnen Ihren Wunsch zu erfüllen.«
Andies Herz legte einen Zahn zu. Letzte Woche hätte sie alles
getan, um diese Worte zu hören. Aber im Lauf der Woche hatte
sie ihre Meinung geändert.
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