Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille
in die Jackentasche, stieg wieder auf und ließ sich die Straße hinunter nach Klein-Roda rollen. Sophie Winter hatte ihn nicht wiedererkannt. Schade. Sie gefiel ihm. Und wer ein Haus voller Bücher hat, kann kein ganz schlechter Mensch sein.
Auf dem Feldweg empfing ihn der beißende Geruch frisch ausgebrachter Gülle. Das Dorf selbst wirkte wie ausgestorben. Niemand fegte die Gass’, kein Kind spielte auf der Straße, kein Auto parkte vor den Häusern.
Er lehnte das Fahrrad an den Gartenzaun, öffnete das Gartentor und ging ins Haus. Seine beiden Tiere hatten sich offenbar entschlossen, dem Wetter zu trauen und auf Pirsch zu gehen, keines begrüßte ihn. Ein Blick in den Kühlschrank sagte ihm, daß er einkaufen mußte. Diesmal nahm er das Auto nach Groß-Roda.
Groß-Roda war nicht viel größer als Klein-Roda, aber es hatte eine frisch angestrichene Fachwerkkirche zu bieten, zwei Bankfilialen, eine durchgeknallte Heilpraktikerin, einen gutbeschäftigten Tierarzt, eine türkische Bäckerei, deren deutsches Brot berühmt war, und ein »kreatives« Fotoatelier für »besondere Aufnahmen«. Außerdem gab es nicht nur Rinder und Schweine, sondern auch Pferde in Groß-Roda, eine zugezogene Lehrerin fuhr jedes Wochenende mit einem prächtigen Friesengespann über die Feldwege. Einer ihrer Nachbarn züchtete Zwergpekinesen. Ein Bach führte durchs Dorf, und einen halben Kilometer hinter dem Dorfausgang lag der Campingplatz, auf dem während der Fußballweltmeisterschaft britische Fans untergebracht worden waren, die allen, die Alkohol verkauften, glänzende Umsätze bescherten.
Vor allem aber gab es in Groß-Roda Jürgen’s Lädchen. Den sächsischen Genitiv verzieh sogar Paul ihm mittlerweile. Denn Jürgens kleiner Supermarkt war das Herz der Gegend, Quelle des guten Lebens und unverzichtbarer Umschlagplatz für Informationen aller Art.
Bei Jürgen war die Hölle los. Leere Kühlschränke hatten heute offenbar alle. Bremer kämpfte sich durch die schmalen Gassen zwischen den Regalen, grüßte, klopfte Schultern, tauschte besorgte Blicke. Niemand hatte etwas Neues von Luca gehört. Aber was die häuslichen Verhältnisse bei den Baumeisters betraf, kannten sich alle bestens aus. Manchmal waren ihm seine Nachbarn unheimlich.
Er packte ein, was irgendwie appetitlich schien oder den Katzen schmeckte, und ging dann zum Zeitungsstand. Dort stützte sich Moritz Marx auf seinen Einkaufswagen, die runde Brille mit Drahtgestell in der Hand, die ihn noch immer wie einen Berliner Studenten aussehen ließ, und blätterte in der neuen Ausgabe des Spiegels. Ein sparsamer Mann. Und ein Vorkämpfer der nahtlosen Integration in die Dorfgemeinschaft, jedenfalls wenn es um die eigene ging. Moritz Marx war der Beweis, daß friedliche Koexistenz möglich war – auch für einen ehemaligen Kreuzberger unter einer Horde starrköpfiger Oberhessen.
Moritz nickte ihm zu. Sie redeten selten miteinander, es war bekannt, daß sie zu jedem erdenklichen Thema entgegengesetzter Meinung waren. Kürzlich hatte Bremer vom wunderbar warmen Frühling geschwärmt und sich von Moritz eine Predigt über die dräuende Klimakatastrophe eingehandelt. Mumpitz. Seine Nachbarn trauten dem Wetter seit jeher jede Tücke zu. Mal war’s zu warm, mal zu kalt, nie war es recht, aber der Landmann fand sich ab, kassierte seine Subventionen und nahm Worte wie »Katastrophe« nur dann in den Mund, wenn damit weitere staatliche Hilfe zu begründen war.
Bremer stellte sich neben Moritz und griff nach der Gala. Die las er nur hier. »Es gibt wohl nichts Neues, oder?« fragte er nach einer Weile.
Moritz mochte ein Spinner sein, aber er war der erste, der sich um Nicole Baumeister gekümmert hatte, nachdem Luca verschwunden war.
»Nichts gibt’s. Gar nichts. Es ist nicht zum Aushalten. Nur unsere lieben Nachbarn wissen bestens Bescheid!«
»›Also was bei denen zu Hause los war …‹« Das hatte mit kritisch gesenkten Mundwinkeln vorhin am Obststand die Heilpraktikerin verkündet.
»›Und die Mutter nie daheim! Kein Wunder, daß der Junge weggelaufen ist!‹« Moritz war nicht ungeschickt im Nachahmen vertratschter älterer Damen. »Früher gab’s das nicht, die Gesellschaft ist schuld, die Schule hat versagt – such es dir aus.« Er hatte müde Augen und zeigte deutliche Anzeichen von Rebellion.
»Keine Spur, gar nichts?« fragte Bremer leise.
»Nein.«
»Was sagt die Polizei?«
Moritz zuckte die Schultern. »Die halten den Ball flach. Die verdächtigen
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