Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille
immer erst die nächsten Anverwandten.«
»Statistisch gesehen …«
»Statistisch gesehen! Das hat dein Freund, der Bulle, auch gesagt. Das hilft auch nicht weiter.«
»Gregor Kosinski ist längst pensioniert. Und außerdem hat er recht. Statistisch gesehen sind nahe Angehörige die wahrscheinlichsten Täter.«
»Na wunderbar. Nicole hat geheult, als sie vom Revier nach Hause kam. Und Walter ist gleich danach ausgezogen.«
Walter Manz, Heizungsbauer, Nicoles Freund seit gut zwei Jahren, war nicht von hier, genausowenig wie sie. Aber er kam nicht nur aus Thüringen, man hörte es ihm auch an. Und Luca – Luca schien ihn zu hassen. Beim letzten Mal hatte er »Ich mag den Manz nicht« gemurmelt, als man ihn fragte, warum er schon wieder weggelaufen sei.
Das Undenkbare war möglich. Bremer spürte, wie sich sein Magen zusammenzog.
»Und der Vater?« Werner Baumeister arbeitete als Fahrer bei DHL. Er schien immer guter Laune zu sein, wenn er seine Pakete auslieferte. Aber was sagte das schon aus über seine Qualitäten als Mann und Vater?
»Der hat seinen Sohn seit Weihnachten nicht gesehen. Sagt er.«
»Und was nun?«
Moritz zuckte wieder mit den Schultern. »Abwarten.«
»Was glaubst du?«
»Ich glaube gar nichts. Luca ist ein gerissener kleiner Bengel. Doch normalerweise kommt selbst ein Junge, der mit allen Mitteln wegwill, nicht weit. Von irgend etwas muß er schließlich leben.«
Bremer warf einen Blick in Moritz’ Einkaufswagen. Der bekannteste Ökofreak weit und breit lebte offenbar von Tiefkühlpizza, Wiener Würstchen, Gouda und Toastbrot. Moritz blickte ihn gleichmütig an. »Mir egal, ob das gesund ist«, sagte er.
Auch das war neu. Moritz Marx entwickelte sich zum Ketzer. Bremer legte die Zeitschrift zurück ins Regal. »Kennst du Sophie Winter?« Moritz hatte mal für das Bürgermeisteramt kandidiert, er legte Wert darauf, über alles und jeden Bescheid zu wissen.
»Klar kenn ich sie. Das letzte Haus in der Siedlung. Sie wohnt allein in der alten Bruchbude.«
»Sie ist beim Sturm unter einen Baum geraten. Ich hab sie heute morgen gefunden, gerade noch rechtzeitig.«
Moritz setzte sich die Brille auf und musterte ihn. »Soso. Na, das paßt ja. Da werden sie wieder alle vom Fluch erzählen, der auf ›Heinrichs Verhängnis‹ liegt.« Nach einem Blick in Bremers Gesicht lachte er. »Sag bloß, du kennst die Geschichte nicht?«
Bremer zögerte. Dann schüttelte er den Kopf.
»Heinrich Brauer hat sein ganzes Vermögen, das er nach der Jahrhundertwende bei der Eisenbahn gemacht hatte, in die Siedlung gesteckt – in Häuser, die nicht in die Landschaft paßten und erst recht nicht zum Geschmack der ansässigen Bauerndickschädel. Weshalb der verrückte Heinrich kurze Zeit später pleite war und sich auf dem Dachboden des letzten seiner Traumhäuser erhängte.«
»Zufällig in dem, in dem heute Sophie Winter wohnt?«
»Zufällig. Das Haus bringt kein Glück.«
»Dafür dürfte sie es billig gekriegt haben.«
»Schon möglich. Aber das wird ihr egal gewesen sein. Die hat genug Geld. Und deshalb fragt sich jeder …« Moritz hob die Schultern und breitete die Hände aus. »Warum ausgerechnet dieses Haus? Warum ausgerechnet bei uns? Was will sie hier in dieser gottverlassenen Gegend?«
Ganz eindeutig: Moritz war vom Glauben abgefallen. Normalerweise ließ er nichts auf seine »gottverlassene Gegend« kommen. Und das, fand Bremer, gehörte sich auch so.
»Nicole meint, das hinge irgendwie mit dem Buch zusammen, mit dem sie das ganze Geld verdient hat. Aber ich kann dazu nichts sagen. Ich habe das Werk nicht gelesen.«
»Welches Buch?« Sophie Winter als Privatgelehrte? Das war eine hübsche Vorstellung.
»Kriegst du denn gar nichts mehr mit? Ein Roman.« Moritz klopfte auf den Spiegel. »Stand wochenlang auf der Bestsellerliste.« Er sah aus, als ob es ihn freute, Bremer bei einer Bildungslücke erwischt zu haben.
»Da war ich wohl in Dubai«, sagte Bremer bescheiden. »Oder in Kenia.« In Marokko. Oder in Ruanda. Aber man sollte niemanden neidisch machen.
»Ach so – deshalb.« Moritz’ Blick verweilte unanständig lange auf dem, was Bremer vornehm sein Embonpoint nannte, diese leichte Wölbung oberhalb der Taille, das Ergebnis von unzähligen Galadiners und entschieden zu vielen eiskalten Gläsern mit Daiquiri, Mojito oder Tequila Sunrise, die sich zu fünf Kilo Übergewicht summiert hatten.
»Urlaub mit Anne?«
»Schön wär’s. Sie war beschäftigt.« Mit so Kleinigkeiten wie
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