Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille
Ehepaar – sie Kopftuch, er Schnurrbart – kam mit einem vollbeladenen Einkaufswagen zum Parkplatz zurück. Er kannte die beiden nicht. Man verlor langsam den Überblick. Früher war man Fremden gegenüber abweisend, heute waren sie einem egal. Er war sich nicht sicher, was besser war.
Er für sein Teil hatte gern alles im Blick. Nachmittags in der Sonne auf der Bank vor der Scheune sitzen und den Friedhofsweg hinunterblicken bis auf die Hauptstraße, dorthin, wo Bremers Haus stand, das war seine Vorstellung von Entspannung. Gut, daß der Kerl zurück war. Seither gab es wenigstens wieder Leben da unten.
Nun mach schon, Marie. Heute ist nicht Freitag, also gibt es nicht viel einzukaufen. Brauchen tun wir ja eh nichts mehr. In unserem Alter.
Gottfried ließ die Scheibe ein weiteres Stück herunter. Wahrscheinlich stand sie rum und schwätzte. Aber reingehen und ihr Beine machen? Niemals.
Marie einmal die Woche zu Jürgen’s Lädchen fahren war in Ordnung. Er tat das gern. Aber sich in ihre Angelegenheiten einmischen war streng verboten. Während sie das Haushaltsgeld ausgab, blieb er im Auto sitzen, wie andere Ehemänner auch. Nur wenn er einen von ihnen kannte, stieg er aus, auf ein Schwätzchen. Gottfried richtete sich auf und schaute aus dem Fenster. Heute schien niemand dazusein.
Gut, daß es Marie besserging. In der letzten Zeit machte er sich Sorgen um sie. Sie war so dünn geworden. Und alles regte sie auf. Vor allem, seit Luca verschwunden war. Das beschäftigte sie mehr, als gut für sie war.
Der Grund war Erika. Immer noch und immer wieder Erika, was man um Himmels willen nicht aussprechen durfte. Nur einmal hatte er gewagt zu sagen, was er dachte: Laß Erika, Marie. Laß sie ruhen. Das alles ist lange her.
Sie hatte zwei Wochen lang nicht mehr mit ihm gesprochen.
»Liebst du die Oma?« Basti, vor zwei Wochen. Gottfried lächelte in sich hinein. Keine Ahnung. Sie waren seit über 40 Jahren zusammen, da fragt man das nicht mehr.
Eine Hand an der Fensterscheibe. Jemand klopfte. Wilhelm. Immer noch dabei. Der Alte würde weitermachen, bis er tot umfiel. Gottfried stieg aus.
Schlechte Nachrichten. Man sah es dem Nachbarn an, er machte ein Gesicht wie nach zwei Bier zuviel.
»Sie haben Walter Manz vorläufig festgenommen.«
Den Freund von Nicole Baumeister. Den Lebensgefährten von Lucas Mutter. Gottfried rutschte das Herz in die Hose.
»Und?«
»Sie haben Fotos von Kindern gefunden. Auf dem Computer.«
»Kinderpornografie?«
Gottfried sprach das Wort so aus, wie er die Sache empfand: unendlich fremd. Er wußte mehr oder weniger, was damit gemeint war, aber er hatte nicht die geringste Vorstellung, was es bedeutete.
»Wohl nicht direkt. Aber es waren Fotos von Luca dabei. In Frauenkleidern.«
»Hat er … ich meine …?«
Wilhelm wiegte den Kopf. »Möglicherweise Mißbrauch.«
Auch das war etwas, was er nie begreifen würde. Nie. Obwohl Marie so tat, als ob sie wüßte, was das war.
Marie. Sie stand hinter ihnen. Er hatte sie nicht kommen hören.
15
Als Sophie aufwachte, hatte sie den Becher noch immer in der Hand. Der Kaffee war kalt geworden. Sie setzte sich auf. Wer noch vor dem Frühstück wieder einschläft, hat ein Problem, dachte sie. Aber der Traum blieb wie durch silbrig glänzende Spinnenfäden mit ihr verbunden, und das war gut, sie wollte sich gar nicht lösen von ihm.
Von der weiten grünen Ebene unterhalb der Usambaraberge. Von bleichen Tagen, die so plötzlich Nacht wurden, als ob jemand die Sonne gelöscht und statt dessen die Sterne angezündet hätte, die nun über der Schattenlandschaft hockten, zum Greifen nah. Von den Geräuschen, die mit der viel zu kurzen Dämmerung einsetzten: Rascheln im Unterholz, aufrauschende Nachtvögel und schrille Insekten, fernes Gebrüll, nahe Rufe. Von den Gesprächen am Feuer, vom Geruch brennender Eukalyptuszweige. Sie hatte von Afrika geträumt.
Als Kind hatte sie älter werden wollen oder Tierärztin oder berühmt. In Afrika wäre sie gern Savannenläuferin gewesen.
Es war der erste Urlaub nach ihrer Hochzeit. Für eine Hochzeitsreise war keine Zeit gewesen. Oder kein Geld, Hanswolf hatte teure Hobbys. Eines dieser Hobbys wegen waren sie hier: zum Jagen. Während er mit den schwarzen Wildhütern voranging und nach Beute Ausschau hielt, war sie in einigem Abstand gefolgt, geduldig, ruhig, stundenlang. Unendlich zufrieden. Hatte fliehenden Dikdiks hinterhergeschaut, wunderschönen häschengroßen Zwergantilopen. Hatte goldfarbene
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