Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille
mehr das Problem zu sein. Aber was ging das Regine an. Die machte sich auch so zu viele Sorgen.
»Das Gespräch mit Nikolaus Maurer gestern. Er hat mich eben angerufen.« Regine stockte. »Er war ganz irritiert.«
Na und? Sophie ging unruhig durch die Küche, das Telefon am Ohr. Hoffentlich war der Kaffee bald durchgelaufen.
»Was hast du dem Mann denn bloß alles erzählt?«
Obwohl sie noch immer mit nackten Füßen auf dem kalten Küchenfußboden stand, wurde ihr warm. Und dann heiß.
»Und warum bist du einfach gegangen? Er wollte doch nur von dir wissen, ob …«
Sie ließ Regine reden und reden und wanderte, den Hörer noch immer am Ohr, aus der Küche durch den Flur ins Kaminzimmer. Die Narzissen, die sie gestern gekauft hatte. Sie waren alle aufgegangen, viel zu schnell, und begannen schon zu verblühen. Sie nahm einen blaßgelben Stengel aus der Vase.
»Sophie? Hörst du überhaupt zu?«
»Natürlich, Liebes.«
Sie trug den kleinen Blumenleichnam in die Küche und legte ihn auf den Tisch.
Die Wahrheit konnte sie Regine nicht sagen. Die Wahrheit war weit erschreckender als alles, was Regine befürchtete. Die Wahrheit lautete: Sie wußte nicht, wovon die Rede war. Sie konnte sich an kein Gespräch mit wie hieß er noch erinnern. Noch nicht einmal an den Mann.
Das Haus seufzte. Ein kühler Lufthauch zog an ihr vorbei. Sie mußte den Geistern opfern. Das hatte sie in Afrika gelernt.
Sophie klemmte den Hörer zwischen Schulter und Ohr, öffnete den Küchenschrank und nahm die kleinen Knochen heraus, zuerst die Rippenbögen. Sie legte sie auf den Tisch, unter die tote Blume.
Immerhin erinnerte sie sich an den Mann von der Kripo und wie er sie in den Arm genommen hatte. Er roch gut, ein unaufdringlicher, klarer Männerduft, und seine Arme hatten sie gewärmt. Aber warum hatte er sie in den Arm genommen? Wovor hatte sie sich gefürchtet? Irgend etwas hatte sie beunruhigt. Aber was? Sie erinnerte sich an rein gar nichts mehr. Erst mit der Lesung am Abend setzte ihr Gedächtnis wieder ein.
Irgendwo in ihrem Inneren gab es einen weißen Fleck. Und der wurde immer größer.
Sophie streichelte behutsam die zarte Wirbelsäule eines Kaninchens, bevor sie sie in die Mitte legte, und schloß das Bild mit dem Unterkiefer des Lamms ab. Die Wirbelsäule sah wie eine Nase aus, die Rippenbögen wie Augenbrauen und Lider. Sie plazierte rechts und links davon die beiden Hüftgelenke. Ohren.
Das Haus bebte. Zitterte. Neigte sich. Nahm es die Gabe an oder nicht?
»Sprich mit mir, Sophie. Ich bitte dich.«
Sie trat einen Schritt zurück. Ein Gesicht. Sie mußte es nur noch zum Lächeln bringen.
»Sophie?«
Sie legte die Blume seitlich über die Knochenskulptur. Jetzt stimmte alles.
»Entschuldigung, Regine. Ich bin nicht ganz bei mir.«
Das hätte sie nicht sagen dürfen. Das regte Regines Redefluß erst richtig an. Aber dafür erwartete sie wenigstens keine Antworten mehr.
Sie ging hinüber zur Vorratskammer. Nach ihrem Einzug hatte sie allerhand Haltbares eingekauft, wie es sich für einen anständigen Haushalt gehörte, aber so richtig viel war nicht mehr da. Immerhin stand noch ein Glas Sauerkirschen ganz oben im Regal.
»Du hattest – Probleme während der Lesung gestern abend, stimmt das?«
Sophie versuchte den Deckel vom Glas zu schrauben. »Ein kleiner Schwächeanfall, nichts Schlimmes.« Sie nahm das Glas, drehte es um und stieß es mit dem Deckel auf den Tisch. Man konnte es dann leichter öffnen. Warum das funktionierte, wußte sie nicht. Regine schnatterte weiter ins Telefon.
»Was hast du gesagt?« Sie drehte das Glas wieder um und schraubte den Deckel auf. Es ging wirklich ganz leicht.
»Hast du deine anderen Termine im Blick? Soll ich Nikolaus Maurer ein weiteres Gespräch anbieten?«
Sie stellte das geöffnete Glas auf den Tisch. Man mußte den Geistern opfern, um sie sich gewogen zu machen.
»Sicher. Warum nicht. Gerne.«
Regine sprach weiter. Sophie hörte nicht zu. Sie verließ die Küche, blickte noch einmal zurück und ließ die Tür angelehnt. Für die Katze. Im Flur legte sie das Telefon zurück ins Ladegerät, nahm den Haustürschlüssel vom Haken, griff sich Einkaufskorb und Portemonnaie und ging hinunter ins Dorf, zu Jürgen’s Lädchen. Wenn sie die Geister befrieden wollte, mußte mehr im Haus sein als ein Glas mit Sauerkirschen.
Auf der Straße Ulla Abel mit Besen. Sophie grüßte vorsichtig. Sie hatte immer ein schlechtes Gewissen, wenn sie die Nachbarn sah, wie sie die
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