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Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille

Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille

Titel: Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Meningokokken-Sepsis auf, führt in bis zu 90 % der Fälle zum Tod und ist unbehandelt immer tödlich.«
    Danke, Flo. So genau wollte ich das gar nicht wissen.
    Und dann heulte Caro los. Und dann Flo. Und dann …
    Du nicht auch noch, DeLange.
    Irgendwann war Caro eingeschlafen. DeLange nahm sie behutsam auf den Arm, um sie ins Bett zu tragen. »Papa, dürfen wir bei dir schlafen?« Flo. Mit rotgeweinten Augen. Die seit einem Jahr nicht mehr Papa zu ihm sagte, nur noch Jo, Grund: »Ich bin doch kein kleines Kind mehr.«
    Er nickte. Flo kuschelte sich neben Caro, er deckte beide zu und setzte sich in den Sessel am Fenster. »Kommst du auch, Papa?« Flo, mit Kinderstimmchen.
    DeLange machte einen beruhigenden Laut und wartete, bis auch seine Älteste eingeschlafen war. Er saß im Sessel, horchte auf den Abendverkehr und eine späte Amsel und lauschte den leichten Atemzügen seiner Töchter. Allein dafür lohnte es sich, wach zu bleiben. Dafür lohnte es sich zu leben.

10
    Es klopfte, zum dritten oder vierten Mal. Sophie Winter rührte sich nicht. Sie wollte nicht an die Haustür gehen. Sie wollte niemanden sehen. Sie wollte niemanden sprechen. Sie ruhte schon seit Stunden unten auf dem Sofa, das Tagebuch auf dem Schoß, und horchte auf die Geräusche des Hauses. Es murmelte. Es bewegte sich. Es griff nach ihr.
    Ihr Kopf fühlte sich seltsam leicht an, das mußte daran liegen, daß sie noch nichts gegessen hatte. Unterzuckerung macht erst euphorisch und dann nervös. Sie näherte sich in rasender Geschwindigkeit dem nervösen Stadium. Natürlich hatte sie frühstücken wollen, heute morgen. Aber es war nichts da, auch nicht der Camembert, den sie gestern bei Jürgen gekauft hatte. Wahrscheinlich hatte sie ihn längst gegessen.
    Wenn sie einfach liegen blieb, konnte sie wenigstens nichts verkehrt machen. Heute früh hatte sie ihr Portemonnaie im Kühlschrank gefunden. Eigentlich war das komisch. Aber es machte ihr angst.
    Sie lag gern auf dem Sofa. Die weiße Katze, die keinen Namen hatte, war vorbeigekommen, hatte sich hinter den Ohren kraulen lassen und ging dann ihren Angelegenheiten nach. Die halbvertrockneten Narzissen, die sie längst hätte wegwerfen müssen, rochen nach Friedhof. Die Bäume bewegten sich vor dem Fenster und mit ihnen die Schatten, die sie warfen, je nachdem, ob die Sonne schien oder Wolken durchzogen.
    Aber draußen war nicht wichtig. Auch wenn es auf sie einstürmen wollte, laut, stinkend, aufdringlich. Wie der Eichhörnchenkadaver im Flur. Wie der Anruf.
    Sophie lehnte sich in die Sofakissen und beobachtete die Fliege, die auf dem Tisch vor ihr mit den Flügeln schlug, immer schneller, bis sie zu kreiseln begann. Todestanz. Sophie sah hin, bis ihr die Augen tränten. Was hatte sie noch alles vergessen? Wie viele Bruchstücke ihres Lebens fehlten bereits? Wann waren es so viele, daß das Gebäude ihrer Wirklichkeit zusammenbrach? Und was wäre dann noch von ihr übrig? Der Gedanke packte und schüttelte sie. Nein, sie hatte keine Angst vor der Welt da draußen. Nicht vor madenzerfressenen Kadavern oder anonymen Anrufen. Ein zerbrochenes Fenster konnte man mit Pappe zukleben, ein totes Eichhörnchen in die Mülltonne werfen und den Boden hinterher naß aufwischen. Das alles war nicht weiter wichtig. Selbst ihre Rache war nicht mehr wirklich wichtig.
    Wichtig war, was drinnen passierte. Drinnen in diesem Haus. Drinnen in ihrem Kopf. Wo wegräumen und naß aufwischen nichts half.
    Das Haus. Es begann sich selbst zu verdauen, ließ Dinge verschwinden und spie dafür andere wieder aus. Sie hatte heute morgen ein mit bunten Perlen besticktes Stirnband entdeckt, neben dem Katzenkörbchen, und vor dem Kaminofen ein seidenes Tuch. Der Duft nach Sandelholz und Vanille zog vorbei, glimmende Räucherstäbchen, rauschende Kleider, klirrende Armbänder und der feine silbrige Klang von Elfenglöckchen im Wind.
    Nachtvögel bei Tag. Mond in der Mittagssonne.
    Sophie setzte sich auf. Die Vergangenheit, die sie hatte begraben wollen, wehrte sich. Sie stieg aus dem Grab empor. Sie forderte ihren Tribut. Die alte Schrift drang an die Oberfläche und überwältigte die Worte, die sie hatten bannen sollen.
    Du spinnst, Sophie.
    Die Knochen. Was oder wen hatten die Knochen herbeigelockt?
    Du drehst durch, Sophie!
    Ja. Gewiß. Nachzulesen in ihrem Tagebuch. Sie packte das schwarze Buch und öffnete es da, wo der Tintenschreiber zwischen den Seiten lag. Zwei Zeilen in einer ruhigen, klaren Schrift. In ihrer eigenen.

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