Paul Flemming 01 - Dürers Mätresse
die Aufnahmen Bild für Bild zu entwickeln, wurde ihm plötzlich klar, dass auf seinen Aufnahmen womöglich doch mehr zu sehen sein könnte als auf den Bildern der Kollegen.
Denn wie schon bei den Christkindlesmarktfotos hatte er auch dieses Mal eine ungewöhnliche Perspektive für seine Aufnahmen gehabt: Auf der Liebesinsel war er nicht nur nahe am Opfer und an den Helfern gewesen. Im Hintergrund spannte sich zudem der venezianische Bogen der Fleischbrücke – und auf ihr standen die Passanten, Neugierigen und Gaffer.
Paul nahm die Lupe und suchte die lange Reihe der Schaulustigen ab. Wonach suchte er? Das wusste er selbst noch nicht genau. Nach einem Hinweis vielleicht, wie auch immer dieser aussehen würde. Oder nach einem bekannten Gesicht.
Oder aber … – Paul ließ die Lupe sinken, um sie gleich darauf wieder hochzureißen. Seine Pupillen weiteten sich. Er erkannte zwischen zwei größeren Gestalten die zierlichen Umrisse des Schattens, den er schon auf den anderen Bildern mit Densdorf neben Max’ Glühweinfass gesehen hatte.
Es gab kaum Zweifel: Statur, Körperhaltung und die verräterische Kapuze passten. Die Frau hatte Densdorf also nach dem Streit am Glühweinfass weiter begleitet. Er fragte sich, ob die Unbekannte Densdorfs Sturz nicht verhindern konnte oder ihn sogar herbeigeführt hatte. Denn wenn sie eine unschuldige Begleiterin gewesen war – warum stand sie dann zwischen den Gaffern und kniete nicht neben dem Sterbenden auf der Liebesinsel?
Paul konnte seine bisherigen Erkenntnisse drehen und wenden, wie er wollte. Für ihn ergab all dies am Ende nur eine Erklärung: Densdorf war nicht durch Zufall in den Fluss gefallen. Und der Unfall im Dürerhaus erweckte zumindest den Verdacht, in irgendeiner Weise mit Densdorfs Tod zusammenzuhängen.
Paul schob die Tür der Dunkelkammer auf. Was sollte er mit seinem Wissen, oder besser Halbwissen, nun anfangen?
5
Paul schob seine Verpflichtung, Blohfeld Bericht zu erstatten, noch ein wenig auf. Er saß an seinem gläsernen Schreibtisch und bemalte einen Bogen Briefpapier mit Namen und Pfeilen, die aufeinander folgten oder einander entgegengesetzt waren. Zwischendurch massierte er seinen verspannten Nacken und strich sich über die Lider seiner müden Augen. Er versuchte einen Zusammenhang herzustellen zwischen dem gewaltsamen Tod Densdorfs, dem des Schreiners und denjenigen, die möglicherweise davon profitierten.
Im Fall des Schreiners fiel ihm kein Name ein, den er mit seinem Tod in Verbindung bringen konnte. Nur derjenige Dürers. Aber dieser Gedanke brachte nun wirklich gar nichts. Bei Densdorf hingegen konnte er seinen Bleistift ohne Mühe stumpf schreiben. Die Liste der Verdächtigen reichte von der enttäuschten Geliebten über die betrogene Ehefrau bis hin zu Marktbeschickern, denen der Tourismuschef einen begehrten Standplatz verweigert hatte. Außerdem kamen gehörnte Ehemänner dazu, und war da nicht noch diese Erlanger Kunsthistorikerin, mit der Densdorf in der Presse eine Dauerfehde ausgetragen hatte?
Paul bemühte sich, die wenigen Fakten, die er darüber in Erinnerung behalten hatte, zusammenzutragen: Die Forscherin – ihr Name fiel ihm im Moment nicht ein – hatte gegen Dürer einen seiner Meinung nach absurden Fälschungsvorwurf erhoben. Demnach sollte Dürer die meisten seiner Werke angeblich gar nicht selbst gemalt haben. Ganz ähnlich wie es Schriftsteller des späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts gehandhabt hatten. Über Jules Vernes zum Beispiel wusste Paul, dass er durchaus offen dafür war, in schreibschwachen Phasen die Manuskripte anderer unter seinem Namen herauszugeben.
Aber Dürer? Wie hätte ein anderer die Perfektion seines Stils jemals erreichen können?
Paul brütete noch eine ganze Weile über Densdorfs Umfeld nach. Um sich in diesem Beziehungsgeflecht zumindest einigermaßen auszukennen, brauchte er mehr Informationen. Die würde er nur bekommen, wenn er sich noch intensiver mit dem Fall beschäftigte. Doch wollte er das überhaupt? Neugierde hin oder her – Paul hatte eigentlich genügend andere Probleme, um die er sich kümmern musste. Dringend kümmern musste. Er sah auf seine Armbanduhr. Er konnte es nicht länger hinauszögern, in der Redaktion anzutreten.
»Sie haben eine blühende Phantasie, das muss man Ihnen lassen«, sagte Victor Blohfeld, als Paul ihn eine knappe Stunde später in seine Gedanken einweihte.
Paul hatte es sich in dem ungastlichen Redaktionsbüro so gut es
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