Paul Flemming 01 - Dürers Mätresse
irgendetwas tun?«, fragte er in den Raum.
»Nein«, sagte Spurensicherer Nummer eins. »Der Einbrecher ist über die Feuerleiter gekommen. Das Badezimmerfenster stand offen. Das sollten Sie in Zukunft schließen, bevor Sie die Wohnung verlassen«, belehrte er Paul.
»Der Versicherung wird das gar nicht gefallen«, sagte Spurensicherer Nummer zwei wissend.
»Aber ich war doch nur kurz einen Döner holen …«, setzte Paul an. Als keine Reaktion erfolgte, ging er ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Das Kopfsteinpflaster war rutschig, und er fluchte leise über die Unwegsamkeiten der Burgviertelgässchen. Die von zwei dunkelgrün lackierten eisernen Säulen flankierte Scheibe von Jan-Patricks Lokal war beschlagen. Es war wie üblich berstend voll, und Paul wollte bereits kehrtmachen in Richtung Weißgerbergasse, als er von Ferne eine ihm wohl bekannte Gestalt um den Nordturm der Sebalduskirche huschen sah. Pauls Herz öffnete sich – soweit das in seiner momentanen Situation überhaupt möglich war – und er beeilte sich, die kurze Distanz bis zur Kirche zurückzulegen.
Das schlanke gotische Turmpaar war angestrahlt und hob sich kontrastreich vom Weißgrau des Schneehimmels ab. »Pfarrer Fink!«, rief Paul, doch die voluminöse Gestalt war bereits wieselflink durch das Hauptportal geschlüpft. Paul erhaschte gerade noch einen Blick auf das zum Pferdeschwanz gebundene Haar des Pfarrers.
»Hannes!«, rief er noch einmal und stemmte sich gegen die mit grotesk gruseligen Fratzen eines Nachkriegskünstlers überladene Tür. Das riesige Langhaus war nur spärlich beleuchtet. Er durchquerte den dreischiffigen Hallenchorbau nahezu blind, bevor er den Pfarrer vor dem düsteren Sebaldusgrab fand, das, vom einfallenden Licht eines der hohen Mosaikfenster berührt, geisterhaft gezackte Schatten warf. »Hannes, nicht erschrecken, ich bin es, Paul Flemming.«
Der korpulente Geistliche machte nicht im Geringsten einen erschreckten Eindruck, als er sich ihm zuwandte. Paul bemerkte eine kleine weiße Flasche mit Sprühventil und einen Lappen in seinen Händen. »Dieser Reliquienschrein steht hier seit 1397«, sagte er mit bedeutungsschwangerer Stimme und ließ seinen Blick mit würdevoller Langsamkeit über den prächtigen Eichenholzkorpus gleiten, der von einem wuchtigen Gehäuse aus geschwärzter Bronze geschützt war. »Bis heute hat er allen Bilderstürmern getrotzt. Bis heute«, wiederholte er mit bösem Unterton und wischte an einer rautenförmigen Platte. »Graffiti auf dem Grab des Heiligen St. Sebald. Bei allem Verständnis für die Jugend – wenn die kleinen Giftzwerge noch mal hier auftauchen, versohle ich ihnen höchstpersönlich den Allerwertesten.«
»Du predigst Gewalt?«, fragte Paul scherzhaft und ließ sich gern auf ein ablenkendes Geplänkel mit dem Pfarrer ein. Er kannte Fink schon seit langem und schätzte seine schroffe, aber herzliche Art. »Ausgerechnet in der besinnlichen Adventszeit«, fügte er süffisant hinzu.
»Hör mir auf mit Advent. Das bedeutet bloß Stress. Außerdem bin ich in bester Gesellschaft. Jesus war in der Wahl seiner Mittel auch nicht immer zimperlich.«
»Jesus?«, fragte Paul überrascht.
Pfarrer Fink ließ vom Wienern der Silbertafel ab, strich sich durch den borstigen Schnauzer und holte zu einer seiner Geschichten aus, mit denen er bei Dekan und Gemeinde wohlwissend aneckte. »Als Jesus fünf war und an einem Bach spielte, lenkte er das Wasser mit bloßer Willenskraft in kleine Teiche um. Ein Spielkamerad nahm einen Zweig und fegte das gesammelte Wasser aus den Teichen. Jesus wurde wütend und herrschte den Jungen an. Er sei ein Dummkopf, brüllte er. Und verdammte ihn dazu, auf der Stelle zu verdorren wie seine Teiche. Der Junge fiel tot um.«
»Oh«, Paul verschlug es für einen Moment die Sprache, »das ist hart.« Er räusperte sich, um dann vorsichtig anzumerken: »Ich bin nicht bibelfest, aber von dieser Passage habe ich weder im Konfirmandenunterricht noch beim Weihnachtsgottesdienst gehört.«
»Kein Wunder. Sie stammt aus den Apokryphen«, sagte der Geistliche und ergänzte erklärend: »aus der Bibel gestrichene Evangelien. Eine von den vielen lesenswerten, aber für uns nicht gerade werbewirksamen Schriften, die Papst Gelasius I. Ende des fünften Jahrhunderts in den Giftschrank gesperrt hat. Sind erst 1886 von französischen Bibelforschern wieder ausgegraben worden.« Pfarrer Fink stützte die Hände auf die Knie und
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