Paul Flemming 01 - Dürers Mätresse
nicht besonders gut gelaunt heute, was?«
»Bis eben war ich’s noch«, er intensivierte die Schwingbewegungen in seinem Stuhl.
»Okay, Herr Griesgram. Wollen wir vielleicht langsam mal mit dem Fotografieren anfangen?« Sie stand auf und begann damit, ihre Bluse aufzuknöpfen.
»Warte«, sagte Paul und erhob sich ebenfalls. »Du behältst deine Klamotten an.« Er wischte den Anflug ihres Protestes mit einer energischen Bewegung weg und sagte: »Wir fangen wie besprochen mit den Porträts an. Du stellst dich vor den Spiegel und schminkst dich erst mal vernünftig. Geh in das kleine Bad neben der Wohnungstür. Die Neonröhre hat die stärkste Leistung, da siehst du jeden Pickel.«
»Sehr charmant.«
»Wer charmante Fotografien macht, darf nicht charmant sein.«
»Noch so eine Berufsweisheit und ich überleg’s mir anders.«
Hannah verdrehte die Augen und verschwand im Bad.
Paul lehnte sich erleichtert in seinem Freischwinger zurück, als sein Blick auf Hannahs Handtasche fiel, aus der die aktuelle Tageszeitung ragte. Er zog die Zeitung heraus und schlug sie auf. Er las zunächst den Sportteil, ärgerte sich über das letzte Spiel des Clubs und überflog dann noch einen Bericht über die Basketballer des RCE Falke.
Er blätterte wieder zurück und der Aufmacher im Lokalteil sprang ihn geradezu an: Mord auf dem Christkindlesmarkt: Polizei nimmt Witwe ins Kreuzverhör!
Jetzt war es also raus: Die Unfalltheorie ließ sich auch der Öffentlichkeit gegenüber nicht länger halten. Paul setzte sich wie gebannt auf und studierte den Artikel Zeile für Zeile. Demnach hatte die Polizei aufgrund von fremden Faser- und Gewebespuren an der Leiche eine Vergleichsprobe angeordnet.
Dann flachte die Spannungskurve allerdings rapide ab. Enttäuschender Ausgang des aufgebauschten Artikels: Die Vergleichsstests ließen auf sich warten. Bis dahin musste die Witwe wieder aus dem Verhör entlassen werden, da ohne jeden Beweis kein ausreichender Tatverdacht gegen sie bestand.
Paul hatte leise Zweifel, ob diese Tests überhaupt zu einem überzeugenden Ergebnis führen konnten.
»Sie sehen angespannt aus. Ist was nicht in Ordnung?«, fragte Hannah, als sie aus dem Bad kam. Gekonnt geschminkt und mit aufgestecktem Haar sah sie reifer aus – und sehr gut. Paul konnte nicht umhin, ihr zuzustimmen: Sie hatte wirklich das gewisse Etwas, das ein Model braucht. Er konnte es ihr kaum abschlagen, ein paar Fotos zu schießen. Was hatte er schon für Gründe, ihrer Karriere im Weg zu stehen, mal abgesehen von den Bedenken wegen ihres Amtes als Christkind? Er würde Kompromisse finden und die Aufnahmen entsprechend gestalten.
»Also?« Hannah nahm sich die Zeitung und schüttelte leicht verächtlich den Kopf. »Dass ausgerechnet Sie mir meine Zeitung klauen. Haben Sie kein Geld für eine eigene?«
»Ich habe sie mir nur geliehen. Was dagegen einzuwenden?«
»Nö. Aber ich bin neugierig: Welcher Artikel hat Sie so gefesselt?«
»Die schreiben über Densdorf. Wie es scheint, haben sie soeben eine Tatverdächtige laufen lassen. Kannst du dir vorstellen, warum Densdorf und der tote Schreiner verfeindet gewesen sein sollten?«
»Vielleicht hatte Densdorf ja etwas mit seiner Alten am Laufen?«
»Wohl kaum. Denn wie du schon sagst: Die ›Alte‹ des Schreiners gehörte nicht zur bevorzugten Altersklasse von Densdorf.«
»Es bleibt also spannend.« Mit diesen Worten legte Hannah die Zeitung beiseite und beendete die Diskussion. »Machen wir lieber die Fotos.«
Paul willigte ein. Er nahm sich viel Zeit, und die Bilder, die er später entwickelte und abzog, zeigten eine junge Frau, die Charisma und Weiblichkeit ausstrahlte, als posiere sie seit Jahren in großen Ateliers.
15
Der Zeitungsartikel, den Paul gelesen hatte und der die Schreinerwitwe in den Kreis der Verdächtigen erhob, ließ ihn nicht los, selbst als er sich einer ganz anderen Sache widmete: dem Schreiben von Weihnachtskarten.
Ein gutes Dutzend lag vor ihm auf dem gläsernen Schreibtisch. Eher klassisch schlicht gehaltene für seine Eltern, Witzkarten mit verulkten Weihnachtsmännern für entfernte Freunde, eine sehr edle, mit Bedacht ausgewählte für Lena und eine ähnliche für Katinka. Ach ja, eine Dürer-Persiflage für Pfarrer Fink und zuletzt einen im Liegestuhl dösenden Nikolaus, der von knapp bekleideten Engelchen umgarnt wurde, für Blohfeld.
Pauls Texte auf den Rückseiten der Karten blieben spärlich, um nicht zu sagen rudimentär, denn in seinen Gedanken
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