Paul Flemming 04 - Die Meisterdiebe von Nürnberg
während er das Gummiboot nun langsam mit Luft füllte.
Sein Plan sah vor, den Teich im Schutze der Dunkelheit zu überqueren. Denn – das hatte er schon während seines offiziellen Besuchs bei den Schraders festgestellt – die Uferböschung war viel zu steil und mit dornigem Gestrüpp bewachsen, so dass eine Annäherung auf dem Landweg ausschied.
Als er mit seinen Vorbereitungen fertig war, brannte im Haus der Schraders noch Licht. Paul wartete geduldig. Er zog den Kragen seiner Jacke zusammen – zu dieser Jahreszeit war es nachts mitunter noch sehr frisch.
Endlich – es war längst Mitternacht vorbei – wurde das Haus dunkel. Paul rappelte sich auf und ließ sein Boot zu Wasser. Als er einsteigen wollte, kenterte es beinahe. Ungelenk suchte er nach Halt und plumpste dann mit Wucht auf den feuchten Boden des Bootes.
Leise schimpfend legte er die Paddel an und ruderte los. Paul hielt sich tunlichst am schilfigen Rand des Teichs. Dadurch wurde die zurückzulegende Strecke zwar größer, aber es verringerte die Gefahr, entdeckt zu werden.
Schließlich hatte er es geschafft. Möglichst leise versuchte er, sich an einer Böschung hinaufzuziehen. Das Gummiboot verbarg er unter den tief hängenden Ästen einer Trauerweide.
Mit vor Aufregung klopfendem Herzen näherte er sich über eine deckungslose Wiese der Villa. Nach wie vor war alles dunkel. Paul schlich sich bis zur Hauswand heran und lehnte sich aufatmend gegen die kalte Mauer.
Bis hierher hatte er es also geschafft. Nun musste er nur noch den ominösen Schatz finden, von dem der kleine Quentin gesprochen hatte. Das Arbeitszimmer seines Vaters hatte er genannt. Da es sich bei der Villa um einen ebenerdigen Flachbau handelte, brauchte Paul nur den ganzen Bungalow zu umrunden, um irgendwann fündig zu werden.
Vorsichtig zog er seine Stabtaschenlampe aus der Hosentasche und machte sich ans Werk. Mit dem Strahl seiner Lampe tastete er die Hausfront ab. Zu seiner großen Enttäuschung waren vor den meisten Fenstern robuste Außenjalousien heruntergelassen worden. Paul hatte keine Chance, durch sie hindurch etwas vom Inneren des Hauses zu erkennen.
Mit nachlassender Euphorie ging er weiter und gelangte zu den großen Glasfronten des Wohnzimmers. Hier hatte er ungehinderten Einblick, doch das nützte ihm wenig, da er diesen Teil des Gebäudes ja schon von seinem letzten Besuch kannte.
Paul hörte ein Knacken hinter sich und zuckte zusammen. Mit Schrecken fiel ihm ein, dass Schrader Wachhunde haben oder sein Windhund anschlagen könnte. Doch alles blieb ruhig, und Paul setzte seine Erkundungstour fort.
Hinter der nächsten Hausecke entdeckte er ein weiteres Fenster, das nicht durch eine Jalousie geschützt war. Paul leuchtete hinein und machte gedanklich einen Freudensprung.
Er hatte es gefunden! Das Arbeitszimmer von Bernhard Schrader lag groß, nobel und nahezu unbeleuchtet vor ihm. Paul ließ den Strahl der Lampe langsam durch den Raum gleiten. Er konnte einen ausladenden Schreibtisch mit einem lederbezogenen Bürostuhl in ausgefallenem Design ausmachen. Weiter hinten sah er eine mannshohe Skulptur, hinter der Regale mit Aktenordnern standen.
Er richtete seine Lampe weiter nach links. Dann wurde er von einer Reflektion des Taschenlampenlichts geblendet. Er schaute genauer hin und erkannte eine Glasvitrine in Augenhöhe an der Wand hinter dem Schreibtisch. Paul leuchtete hinein – und erschrak.
In der Vitrine thronte auf einer goldenen Halterung tatsächlich die Heilige Lanze.
Paul lief es eiskalt den Rücken hinunter. Was hatte er da entdeckt? Und wie sollte er mit dieser Entdeckung umgehen?
Er fühlte, wie ihm das Herz bis zum Hals schlug. Er schaffte es kaum, seine Gedanken zu ordnen: Paul fragte sich, wie Schrader es geschafft hatte, die Lanze aus der gut geschützten Ausstellung herauszuholen und ob er – um nicht aufzufliegen – das Original durch eine gute Fälschung ersetzt hatte.
Während der kalte Wind vom Teich herüber wehte, spekulierte Paul über die Möglichkeit, dass Schrader den Austausch der Lanze schon vor der Ausstellung während des Transports vorgenommen hatte. Doch dann wurde ihm klar, wie unwahrscheinlich seine Vorstellungen waren. Das Sicherheitssystem war ja bestimmt lückenlos. Außerdem drängte sich die Frage auf, warum Schrader sein wertvolles Beutestück so unverblümt in seinem Arbeitszimmer platzierte, wo es jeder sehen konnte – inklusive Paul.
»Nehmen Sie Ihre Hände hoch.« Die Stimme hinter ihm klang ruhig,
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