Paul Flemming 04 - Die Meisterdiebe von Nürnberg
bereits der Spargel. »Weißt du auch, dass ein Restaurator den Evangelienband einmal wöchentlich umblättert, damit die Besucher im Laufe der Zeit alle Seiten sehen können.«
»Ja«, nickte Paul, »davon habe ich gehört.«
Der Küchenmeister machte sich daran, mit Butter gefettete Formen schichtweise zu füllen. Zunächst eine Lage Kartoffelpürree, dann die getrüffelte Fleischmischung, darauf wieder Pürree. »Ich bin beim Lesen im Evangelienbuch auf diese Lanze gestoßen. Sie spielt eine ziemlich große Rolle in der Kirchengeschichte.«
»Das ist mir bewusst«, belächelte Paul den etwas unbedarften Hinweis seines Freundes. »Die Heilige Lanze durchzieht unsere Vergangenheit seit der Kreuzigung wie ein roter Faden.«
»Das meine ich ja«, sagte Jan-Patrick betont und begann, einen vorgewärmten Teller zu garnieren. Aus einem seiner Öfen holte er eine fertige Backform und stürzte ein köstlich duftendes Kartoffel-Törtchen auf den Teller. Daneben legte er zwei bereits gegarte Kuttelpakete, eine Portion Lammkarree und ein knusprig nachgebratenes Stück Schulter. Den Rahmen bildete der schneeweiße Spargel, von dem goldbraune Butter perlte. »Guten Appetit«, wünschte der Koch, als er Paul den Teller vorsetzte.
Paul ließ sich nicht lange bitten und langte zu. »Köstlich«, sagte er schlemmend. »Aber ich weiß noch immer nicht, worauf du hinaus willst.«
»Ich mache mir eben meine eigenen Gedanken«, sagte Jan-Patrick und überließ seinen Küchenhilfen den Rest der Arbeit. Er setzte sich Paul gegenüber. »Die Heilige Lanze ist in meinen Augen eine Art Magnet.«
»Magnet?«, fragte Paul zufrieden kauend.
»Ja«, sagte der Koch und stützte nachdenklich sein Kinn auf die verschränkten Hände. »Sie zieht seit jeher das Gute an – ebenso wie das Böse.«
»Was meinst du damit?«
»Es ist ja offensichtlich, dass es im Laufe der Zeit einige üble Gestalten auf die Lanze abgesehen hatten – und wohl noch immer haben. Andererseits reisen anerkannte Größen aus aller Welt nach Nürnberg, nur um einen Blick auf die Reliquie werfen zu können. Diese ganzen Kongressteilnehmer zum Beispiel. . .«
»Du sprichst von den Metallurgen?«, warf Paul ein und piekste das nächste Stück Spargel auf.
»Wie auch immer.« Der Koch sah Paul eindringlich an. »Ich bin fest davon überzeugt, dass dein Schicksal eng mit dem der Heiligen Lanze verbunden ist«, sagte er pathetisch.
Paul hob gerade den Zeigefinger, um darauf einzugehen, als sein Handy klingelte.
27
Ihr erstes Wiedersehen nach mehr als einem halben Jahr war für Paul mit gemischten Gefühlen verbunden.
Kriminaloberkommissarin Jasmin Stahl vom K 33 stand mit offenem Lächeln vor der trutzigen Fassade des Alten Rathauses und erwartete ihn. Während Paul noch überlegte, was die passendste Begrüßung wäre, stellte sie sich bereits auf die Zehenspitzen, um den deutlich größeren Paul umarmen zu können.
»Schön, dich mal wieder zu sehen«, freute sie sich. »Wir waren doch beim Du, oder?«
»Ich glaube schon. Und ich hätte es verstanden, wenn du nicht gekommen wärst«, sagte Paul, als sie sich voneinander gelöst hatten.
»Weshalb hätte ich nicht kommen sollen?«, fragte Jasmin belustigt und fuhr sich durch ihr struppiges rotes Haar. »Weil du mir einen Korb gegeben hast?«
»Naja, Korb würde ich es nicht nennen«, versuchte Paul abzuwiegeln. Hätte er doch bloß nicht davon angefangen!
»Wie denn sonst?« Die sportliche junge Frau neigte den Kopf und taxierte Paul forschend. Um nicht nervös zu werden, begann Paul ihre Sommersprossen zu zählen.
Doch Jasmin ließ sich nicht beirren: »Ich wollte etwas von dir, das du offensichtlich nicht wolltest. Das ist doch völlig okay. Vielleicht ist es eines Tages mal umgekehrt. Oder besser noch: Vielleicht wollen wir es irgendwann beide.«
Paul war normalerweise nicht so schnell aus dem Konzept zu bringen. Aber Jasmin mit ihrer forschen, direkten Art brachte dies zustande. Schulterzuckend sah er sie an.
»Bloß nicht verlegen werden, Mister Flemming«, sagte sie augenzwinkernd. »Keine Angst, ich gehe dir nicht an die Wäsche. Wir haben heute anderes zu tun.« Dann schwenkte sie schlagartig um und wurde sachlich. Sie deutete auf eine Gruppe von Demonstranten, die sich ihnen näherte, und raunte Paul zu: »Die warten wir noch ab, bevor wir reingehen. Versuch, möglichst unauffällig auszusehen.«
Noch während Paul darüber nachdachte, wie man unauffällig aussah, kamen die Demonstranten näher.
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