Paul Flemming 04 - Die Meisterdiebe von Nürnberg
»Kapelle«, war eine einfache Holzpritsche an der Wand befestigt. Darüber war eine hölzerne Walze, um die ein starkes Seil gewickelt war, horizontal zwischen den Wänden verankert. Daran hing ein Gewicht in Form einer schweren steinernen Halbkugel. Rechts an der Wand lehnte eine Leiter, die ebenfalls mit einer Winde versehen war – die Streckbank.
Paul stockte der Atem, als er die Kreidesilhouette eines menschlichen Körpers auf dem steinernen Boden der Kammer sah.
Ihn erschütterte der Gedanke, dass genau an dieser Stelle, auf den harten, kalten Bodenplatten, Bea Meinefeld ihr Leben ausgehaucht hatte. Wie durch einen heilsamen Schock bemerkte Paul, wie sich in diesem Augenblick tatsächlich etwas in ihm löste. Vage, anfangs noch verschwommene Bilder rasten durch seinen Kopf.
»Paul? Ist alles okay mit dir?«, erkundigte sich Jasmin, als er sich an die Stirn fasste und Halt am Türrahmen suchte.
»Ja, ja, es geht schon«, sagte er. »Gib mir bitte einen Moment Zeit.«
Er sah Bea plötzlich leibhaft vor sich. Ihre für ein Model fast zu zierliche Figur, die sie während des Shootings in einen nachtschwarzen Tangaslip und ein Oberteil aus spinnennetzartig verschränkten Lederriemen gezwängt hatte. Ihr gebräunter, durchtrainierter Bauch kam in dieser Kombination gut zur Geltung. Dazu trug sie samtschwarze Stilettos, auf denen sie auf dem unebenen Boden nur staksend vorankam. Paul sah ihr kurzes, platinblondes Haar, die hübsche zierliche Nase, den etwas kleinen Mund mit den schneeweißen Zähnen. Und er sah ihre herausfordernd grünen Augen.
Aber . . . Bea blieb in seinen Gedanken lebendig! So sehr sich Paul auch anstrengte und sich auf den Umriss der Toten auf dem Boden konzentrierte, konnte er immer nur die Bilder der lebenden Beate vor sich sehen. Die Bilder, die er von dem Fotoshooting am Nachmittag im Kopf hatte. So konnte er sich noch genau daran erinnern, in welchen Posen er die junge Frau abgelichtet hatte. Er hatte zwei Fünfhundert-Watt-Strahler auf sie gerichtet und damit ein gelbliches Licht erzeugt. Denn die Halogenstrahler hatten eine ähnliche Farbtemperatur wie die Glühbirnen an den Decken des Gewölbes. Er hatte Bea an die Streckbank dirigiert, an die sie sich bereitwillig schmiegte. Er hatte sie angewiesen, die Luft anzuhalten, um ihre Bauchmuskulatur zu betonen und ihre Brüste größer erscheinen zu lassen. Paul wusste noch jedes Detail, selbst die technischen: eine sechzigstel Sekunde, ISO 400, Blende vier . . .
»Die › Kapelle ‹ hat oben in der Decke eine Öffnung«, unterbrach Jasmin seine Gedanken. »Sie führt bis in den alten Rathaussaal. Dort konnten die Ratsherren und Schöffen mithören, was in der Folterkammer vor sich ging. Die Folter führte immer der Henker zusammen mit seinen Gehilfen durch.«
»Ich nehme an, er hat viele Geständnisse erzielt«, sagte Stockinger mit einem prüfenden Blick auf die Seilwinde mit dem schweren Gewicht.
»Alle haben gestanden«, sagte Jasmin. »Denn es kam nicht auf eine wahrheitsgemäße Aussage an, sondern auf ein Schuldeingeständnis. Wer einmal hier unten gelandet ist, war im Grunde schon vorher verurteilt.« Jasmin deutete auf ein furchteinflößendes Instrument, das an einem rostigen Haken hing. »Es gab allein fünf Folterstufen mit der Daumenschraube. Bei Stufe fünf hatte man keinen Daumen mehr.« Dann zeigte sie auf die Streckbank: »Mit der Dreh – und Streckleiter ließ sich ein Körper angeblich um bis zu fünfzehn Zentimeter in die Länge ziehen.«
»Schauriges Rechtsgebaren. Wann wurde diese Praxis denn eingestellt?«, wollte Stockinger wissen.
»Ab 1813 durfte laut bayerischem Kriminalrecht nicht mehr gefoltert werden«, wusste Jasmin und fügte mit zuckersüßem Lächeln hinzu: »Einige meiner Kollegen aus dem Präsidium würden die Räumlichkeiten hier aber gern wieder in Betrieb nehmen. Für gewisse Fälle zumindest.«
Paul hatte sehr wohl verstanden, auf wen sie da anspielte. Abermals bemühte er sich um Konzentration, um seine verschütteten Erinnerungen freizulegen. Er fixierte die Kreidestriche zu seinen Füßen. Den Umrissen nach zu urteilen, hatte die tote Beate mit dem Kopf in Richtung der Streckbank auf dem Steinboden gelegen. Ihr Kopf war offenbar zur Seite gedreht gewesen, die rechte Hand weit ausgestreckt, die Linke an der Stelle eingeknickt, an der sie die raue Seitenwand berührt hatte. Feine rote Spritzer an der Wand deuteten darauf hin, dass sie sich dabei die Hand verletzt hatte.
Das rechte Bein
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