Paula geht
Käthe, dass wir spazieren gehen. Du bist zu dick und ich auch, also können wir beide was dagegen tun, jetzt stell dich nicht so an.“ Vor lauter Konzentration auf die Ziege schien sie ihn in der Dämmerung nicht zu sehen. So blieb ihm Zeit, sie zu mustern. Sie muss etwa vierzig Jahre alt sein, dichte kastanienbraune Haare fielen ihr ins Gesicht, während sie an dem Seil zerrte. Sie war in eine unförmige Strickjacke gehüllt. Selbst die konnte ihren kräftigen Vorbau nicht verbergen. Ihre Füße stecken in gelben Gummistiefeln, in denen sie sicher schon ganz verfroren waren. Ihre kräftig ausgeprägte Nase zeigte ein wenig in die Luft.
Ralf fuhr es warm in den Bauch. Ist sie das, ein Geschenk des Himmels? Wo kommt sie her, wo will sie hin? Soll ich sie ansprechen? Inzwischen war sie nur noch drei Meter von ihm entfernt und erschrak sichtlich, als er sich aus seiner Starre löste. „Hallo, oh Gott, ich habe gedacht, Sie sind ein Baum.“
Ralf räusperte sich und krächzte ebenfalls ein „Hallo“. Aus der Nähe sah sie noch sympathischer aus. Er roch bereits den Apfelkuchen. „Sie haben da aber eine schöne Ziege.“ Was Blöderes konnte ihm jetzt auch nicht einfallen.
Sie schaute ihn misstrauisch an. „Schön ist was anderes. Aber ich dachte, sie braucht auch mal ein bisschen Auslauf, war wohl keine gute Idee.“
„Soll ich mitgehen und ziehen helfen?“ Ralf, halt dich zurück und überfahr sie nicht gleich, versucht er sich zu bremsen.
„Nein danke, ich komme schon klar. Ich glaube, es reicht für heute. Wir drehen lieber um, ich bin schon schweißgebadet.“
Ralf konnte nicht anders, er musste sich vorstellen, wie ihr der Schweiß zwischen den Brüsten hinunterlief. Hörst du wohl auf, schimpfte er mit sich im Stillen. Die arme Frau.
„Schönen Abend noch“, sagte sie und zog mit ihrer Ziege von dannen. Die lief jetzt brav mit, weil sie natürlich wusste, dass es in den Stall ging. Warum hatte er eigentlich keine Ziegen, die waren doch ganz nett? Und jeder Hofladen sollte Ziegenkäse verkaufen. Ja, der Hofladen, das blieb erst einmal ein Gedankenspiel. Er hatte definitiv keine Zeit, erst kam die Arbeit auf dem Hof, mit der er schon mehr als ausgelastet war, dann wollte er endlich das Haus fertigstellen und dann irgendwann...
Er hatte das Gefühl, ihm lief die Zeit davon. Jetzt war er dreiundvierzig. Den Hof hatte er mit siebenunddreißig gekauft. Vorher hatte er als Agraringenieur in einem großen Futtermittelbetrieb gearbeitet und sich mit dem Hof einen langgehegten Traum erfüllt. Die letzten Jahre waren dann derart mit Arbeit angefüllt gewesen, dass er abends wie ein Mehlsack ins Bett fiel. Er hatte wirklich keine Energie mehr gehabt, nach Frauen Ausschau zu halten. Und leider verirrten sich selten Frauen zufällig auf seinen Hof. Jetzt lief der Laden so langsam und er fragte sich wirklich, ob der Zug, eine Familie zu gründen, für ihn bereits abgefahren war.
Kopf hoch, auch wenn der Hals schmutzig ist, mahnte er sich mit den Worten seiner Großmutter. Von seinen Großeltern hatte er die Liebe zur Landwirtschaft. Sein Vater hatte allerdings nicht in die väterlichen Fußstapfen treten wollen und war Versicherungsmakler geworden. So wurde der Hof verkauft, als Ralf siebzehn war. Damals hätte er ihn gerne gekauft, aber sein Vater und dessen Geschwister brauchten das Geld und hörten nicht auf den Halbwüchsigen, der versprach, alle in einigen Jahren auszuzahlen. Tja, so hatte er seine besten Jahre damit zugebracht, Geld zu verdienen. Immerhin, dachte er trotzig, das habe ich geschafft. Und wenn erst wieder der Frühling kommt, wird alles gut. Da ist dann kein Platz und keine Zeit mehr für trübe Gedanken.
Er stapfte ins Haus, zog sich die dreckverkrusteten Schuhe aus und lief in seinen dicken Socken zum offenen Kamin, den er sich zusätzlich zur Pelletheizung noch gegönnt hatte. Als das Feuer prasselte, setzte er sich mit einem Glas Bourbon davor, das war zurzeit sein Feierabendritual. Doch heute dachte er an die Frau mit der Ziege. Er lächelte, als ihm einfiel, dass er nur Helga, seine Zugehfrau fragen musste, wer die Frau war. In einem Dorf wie diesem blieb nichts verborgen.
Vor sechs Jahren, als er den runtergewirtschafteten Hof erworben hatte, war es nicht leicht gewesen mit den Einwohnern hier. Die waren sehr skeptisch gegenüber seinem biologischen Konzept und man hatte ihn kaum gegrüßt, wenn er, was er nur selten tat, durch das Dorf lief oder sonntags den Gottesdienst
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