Pauschaltourist
Masken ausgelöst
hat. Bitte beruhigen Sie sich. Es ist alles unter Kontrolle.« Der Pilot wiederholte die sich widersprechende Ansage mehrfach
in leichten Variationen, und irgendwann kam die Nachricht sogar bei Nina an. Statt »Ich will nicht sterben« rief sie jetzt
ein böses Fäkalwort in Endlosschleife.
Es dauerte noch fast bis zur Landung, bis sich die Nachwehen des Chaos legten, aber immerhin hatten jetzt alle ein Gesprächsthema.
Durch den Zwischenfall entfiel die Verteilung der dachpappeartigen, aromafreien Bordverköstigung, was mich wenig störte. Nina
traute sich nicht, ihren Sitzplatz zu verlassen, und ihr Landungskiekser übertraf alle vorigen bei weitem.
»Ich habe wirklich gedacht: Jetzt ist es vorbei.«
»Ich auch«, log ich aus Solidarität.
»Und ich habe Heino verflucht, weil er mir diese Scheiße eingebrockt hat. Wäre er mit an Bord gewesen, hätte ich ihn noch
während des Absturzes erwürgt.«
|251| Seit dem Spontanbesuch seiner Frau hatte Nina diesen Namen nicht mehr in den Mund genommen.
»Hast du eine Ahnung, warum unser Reiseplan verkürzt wurde?«, fragte ich vorsichtig.
Sie sah mich an und nickte. »Vielleicht erzähl ich dir das mal. Irgendwann.« Dann ging sie in die Liegeposition und schloss
die Augen. Genau in diesem Augenblick tauchte auf der Mauerkante hinter ihrem Kopf eine streichholzschachtelgroße Kakerlake
auf. Das Insekt wackelte mit den Fühlern und verharrte.
»Oh«, sagte ich.
»Irgendwann, wirklich«, wiederholte Nina mit geschlossenen Augen.
»Das habe ich nicht gemeint.«
Sie sah mich an und stützte sich auf die Ellenbogen. »Und was dann?«
Ich nickte in die Richtung hinter ihr und sagte: »Hier gibt es die Viecher also auch.«
Nina drehte sich um, dann nickte sie ebenfalls, sehr gelassen. Ich schwor mir, augenblicklich damit aufzuhören, sie ständig
zu unterschätzen. »Aber hoffentlich nicht so viele wie in Marokko. Das waren ja
Scharen
. Hatte ich dir erzählt, dass ich in der zweiten Nacht von einem seltsamen Knistern geweckt wurde? Das war eine Kakerlake,
die gerade versuchte, meine Antibabypillen aus der Verpackung zu knabbern.«
»Kakerlake?«, quiekte die Bikinipresswurst auf der anderen Seite.
»Ja«, sagte ich und wies auf die Mauer.
Sie schrie etwas wie »Hu!«, sprang von der Liege auf, Dan Brown und eine Zigarette gingen zu Boden, und dann stolperte sie
rückwärts von der Mauer weg, wobei sie das seltsame »Hu« wiederholte. Nach zwei Schritten fiel sie in den Pool. Da war sie
immerhin sicher.
»Hu«, machte Nina grinsend. »Besorgst du uns noch zwei Bier?« |252| Ich nickte, stand auf, hockwendete über die Mauer und sah mich nach Catering um.
In unregelmäßigen Abständen gab es gleichförmige Anordnungen von gebührenpflichtigen Strohsonnenschirmen, ein Muster, das
ich schon beim Blick vom Balkon gesehen hatte. Nicht alle Hotels lagen wie unseres direkt am Strand, drängten sich aber in
seiner Nähe. Die Terrassen der Restaurants waren gut besetzt. In einem davon verkaufte mir ein sehr entspannter und freundlicher
Portugiese, der erfreulicherweise kein Deutsch konnte, vier Flaschen kaltes »Sagres«. Als ich endlich unser Hotel zwischen
seinen Zwillingen ausmachte und über die Mauer zurückkletterte, schwatzten Nina und die pudelnasse Kakerlakentante angeregt
miteinander.
Barbara kam aus Bielefeld, aber ich ersparte ihr die Nerd-Verschwörungstheorie von der angeblichen Nichtexistenz der Stadt.
Sie hatte einen gescheiterten Versuch hinter sich, auf Mallorca sesshaft zu werden. »Das versuchen viele, aber es ist die
Hölle. Die Menschen denken, sie könnten als Makler arbeiten, als Verwalter einer Finca oder wenigstens in der Gastronomie,
ohne jede Erfahrung in diesen Berufen, und sie enden mit Putzjobs, wenn sie überhaupt was bekommen. Einige versuchen, Restaurants
oder Bars zu eröffnen, aber sie haben keine Ahnung, wie das geht. Wenn nach ein paar Wochen das Geld aufgebraucht ist, haben
sie Schwierigkeiten, noch etwas zum Essen aufzutreiben geschweige denn Rückflugtickets. Die Mallorciner sind wirklich …« –
sie formulierte das Schimpfwort mimisch – »Aber ich kann sie auch verstehen. Die arroganten Deutschen glauben, alles besser
zu können, und sie meinen, dort willkommen zu sein. Dabei stimmt das überhaupt nicht. Ihr
Geld
ist willkommen, aber die Einheimischen hätten eigentlich viel lieber nur das und keine Touristen oder ahnungslose Aussteiger.«
Sie zog eine
Weitere Kostenlose Bücher