Peinlich peinlich Prinzessin
bauen, weil er meiner Familie beweisen will, dass er meiner würdig ist, obwohl es in Wahrheit genau umgekehrt ist. Ich bin seiner nicht würdig und könnte mir vorstellen, dass ich im tiefsten Inneren vielleicht unbewusst sogar darauf hingearbeitet hab, dass unsere Beziehung in die Brüche geht. Vielleicht war sie auch von Anfang an zum Scheitern verurteilt, weil ich im Myers-Brigg-Typen-Indikatortest, den wir letzten Sommer im Internet gemacht haben, ein Mensch vom Typ INFJ bin und er einer vom Typ ENTJ. Jedenfalls will er jetzt einfach nur noch normal mit mir befreundet sein und sich auch mit anderen treffen, was das Letzte ist, was ich möchte. Aber ich respektiere seine Bedürfnisse, und ich weiß, wenn ich jemals darauf hoffen will, die Früchte der Selbstaktualisierung zu
ernten, muss ich mehr Zeit darauf verwenden, die Wurzeln meines Lebensbaumes zu stärken und … und … und das ist im Grunde genommen auch schon alles. Okay, außer dass ich möglicherweise eine Hirnhautentzündung habe. Oder Lassafieber. Aber ansonsten fehlt mir nichts. Ich muss mich nur mit der Situation abfinden. Eigentlich geht es mir gut. Wirklich gut.«
»Ach so, dir geht es also gut«, sagte Dr. G. Stöhrt. »Du bist seit einer Woche nicht in der Schule gewesen, obwohl dir körperlich nichts fehlt - das mit der Gehirnhautentzündung lassen wir natürlich von einem Arzt abklären -, und läufst seit Tagen im Schlafanzug herum, aber ansonsten geht es dir gut?«
»Ja, genau«, sagte ich. Auf einmal fingen meine Augen an zu brennen. Und mein Herz klopfte wieder so schnell. »Kann ich jetzt nach Hause?«
»Wozu?«, fragte Dr. G. Stöhrt. »Damit du wieder ins Bett kriechen und dich noch weiter von deinen Freunden und deiner Familie abkapseln kannst - übrigens ein klassisches Anzeichen für eine Depression.«
Ich blinzelte ihn entgeistert an. Ich fand es ziemlich dreist, dass er - ein völlig Fremder, schlimmer noch: ein mir fremder COWBOY - so mit mir redete. Für wen hielt dieser Typ sich eigentlich (außer für einen führenden Spezialisten für Kinder- und Jugendpsychologie)?
»Willst du, dass sich die Beziehung zu deiner langjährigen besten Freundin Lilly noch weiter verschlechtert?«, fragte Dr. G. Stöhrt und deutete auf seine Notizen. »Willst du, dass auch deine anderen Freundschaften den Bach runtergehen, indem du nicht in die Schule gehst und dich nicht mit deinen Freunden triffst, damit du dich nicht mit ihnen auseinandersetzen musst?«
Ich blinzelte wieder. Angeblich war ich ja von uns beiden die Verrückte, aber nach dieser Aussage fiel es mir schwer, zu glauben, dass nicht er es war.
Natürlich gehe ich nicht deswegen nicht in die Schule, weil ich dort Lilly sehen würde oder weil ich mich dort mit anderen Leuten auseinandersetzen müsste. Damit hat es ja wohl überhaupt nichts zu tun. Und das ist auch nicht der Grund, weshalb ich nach Genovia ziehen will.
»Willst du auch weiterhin darauf verzichten, die Dinge zu tun, die du früher so gerne getan hast, wie zum Beispiel im Internet mit deiner Freundin Tina zu chatten, und stattdessen den Tag verschlafen und die ganze Nacht wach bleiben?«, fragte Dr. G. Stöhrt. »Und immer dicker werden, weil du wahllos Essen in dich reinstopfst, wenn du glaubst, dass keiner es sieht?«
Sekunde mal … woher wusste er DAS denn? WOHER WUSSTE ER VON TINA? ODER DEN KEKSEN?
»Willst du den Leuten um dich herum auch weiterhin sagen, was sie hören wollen, nur damit sie dich in Ruhe lassen? Willst du dich auch weiterhin weigern, selbst die grundsätzlichste Körperhygiene durchzuführen - was übrigens bei Jugendlichen ebenfalls ein klassisches Symptom für eine Depression ist?«
Ich verdrehte bloß die Augen. Was er da sagte, war ja wohl komplett lächerlich. Ich und eine Depression? Guter Witz. Ich war vielleicht traurig, das ja. Weil mein Leben zurzeit erwiesenermaßen scheiße war. Und wahrscheinlich hatte ich wirklich eine Hirnhautentzündung, auch wenn alle um mich herum meine Symptome ignorierten.
Aber ich hatte ganz bestimmt keine Depression.
»Willst du dich auch weiterhin von den Menschen isolieren, die du geliebt hast, von deinem kleinen Bruder, deinen Eltern, deinen Freunden? Willst du auf die Dinge verzichten, die dir früher so viel Spaß gemacht haben - deine ersten Gehversuche als Schriftstellerin, deine Mitarbeit bei der Schülerzeitung -, und dich in Selbsthass suhlen, ohne den Versuch zu machen, etwas an deiner Situation zu ändern, um das Leben
wieder
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