Pelagia und der rote Hahn
Verzweiflung allein zurück. So verging eine qualvolle Nacht. Aber als das erste blasse Licht des Morgens durch die Ritzen der Fensterläden sickerte, krachte draußen ein Schuss, und mehrere Frauen begannen zu schreien.
Was war da los?
Polina Andrejewna legte ein Ohr an die Tür, aber sie konnte nichts hören, was ihr irgendwelche Aufschlüsse gegeben hätte. Wieder fielen Schüsse – diesmal kamen sie von oben, wie ihr schien. Die Frauen schrien noch eine Weile, dann hörten sie auf. Völlige Stille trat ein, die nur dann und wann von vereinzelten Schüssen durchbrochen wurde.
Es vergingen vielleicht eineinhalb Stunden, dann hörte sie Schritte vor ihrer Tür. Das Schloss rasselte.
Sie erwartete, Daniel-Beg zu sehen, aber auf der Schwelle stand Salach, neben ihm eine der Frauen von gestern.
»Komm«, sagte der Palästinenser und zog nervös die Nase hoch. »Ich habe dich eingetauscht.«
»Eingetauscht? Wofür?«
»Die Juden lassen den Beg rein, dafür der Beg lässt dich raus.«
Pelagia verstand überhaupt nichts, aber der Palästinenser nahm sie an der Hand und zog sie hinter sich her.
Die Situation, die zu diesem Zeitpunkt im Aul herrschte, hätte der Schachspieler Berditschewski wohl als klassisches Patt bezeichnet.
Die Kommunarden saßen im Steinturm fest. Von dort aus kontrollierten sie alle Höfe und Gassen sowie sämtliche Zugänge zum Dorf. Deshalb blieben die Frauen und Kinder in ihren Hütten, während die Dshigiten rund um den Hügel in Deckung gegangen waren. Ein paarmal hatten sie versucht, näher heranzukommen, aber Magellan hatte ihnen jedes Mal mit seiner Winchester eine Kugel dicht vor die Füße geknallt, zur Abschreckung, und dann hatten sie es bleiben lassen.
Als die Tscherkessen begriffen hatten, dass sie nicht ins Dorf hineinkamen, die Juden hingegen, dass sie nicht hinauskonnten, schickte man aus dem Turm einen Parlamentär – Salach. Er hatte Befehl, den Tscherkessen ein Ultimatum zu überbringen: Sie sollten alles, was sie geraubt hatten, zurückgeben und außerdem eine Strafe zahlen, dann würden die Juden abziehen.
Daniel-Beg entgegnete, er werde nicht mit einem Menschen verhandeln, der eine Kette um den Hals trage, sondern nur mit dem Beg der Juden, und nur in seinem eigenen Haus, weil es gegen die Ehre sei, beim Verhandeln wie zwei Schakale in den Büschen zu sitzen.
»Ich habe natürlich sofort verstanden, worum es geht«, berichtete Salach stolz. »Er wollte sehen, ob seine Frauen und Kinder noch am Leben sind. Also sage ich zu ihm: Gut, Beg, aber dafür lässt du die russische Fürstin frei.«
»Was wollt Ihr bloß immer mit der ›Fürstin‹?«, stöhnte Polina Andrejewna. »Wenn die Tscherkessen auf einmal doch gewinnen, kommen wir mit zehntausend Franken nicht davon.«
Jetzt saßen sie in Daniel-Begs Haus und warteten auf den Hausherrn.
Da kam der alte Räuber auch schon langsam die Straße entlanggeritten und zeigte seine leeren Hände. Sein Gesicht war vollkommen regungslos, sein weißer Bart flatterte leicht im Wind.
Vor dem Eingang zu seinem Haus sprang er elastisch wie ein junger Mann vom Pferd und übergab die Zügel einer Frau. Mit gesenkter Stimme stellte er ihr eine kurze Frage, und als er die Antwort hörte, entspannte sich sein Gesicht. Bestimmt hat sie ihm gesagt, dass niemand verletzt ist, dachte Pelagia.
Salach und sie traten aus der Tür, um zum Turm hinüberzugehen, aber Daniel-Beg ergriff Polina Andrejewna plötzlich am Arm und zog sie zurück ins Haus.
»He, he!«, rief Salach empört. »Das war nicht abgemacht!«
Der Alte fletschte die Zähne und knurrte:
»Die Fürstin bleibt bei mir. Daniel-Beg ist kein Dummkopf und kein kleiner Junge. Gleich kommen die Juden raus und bringen mich um. Das würde ich ja genauso machen! Geh zu ihnen und sag: Wenn ich sterbe, stirbt die Fürstin auch! Magellan-Beg soll allein herkommen, dann werden wir reden.«
Pelagia musste sich neben ihn an den Tisch setzen. Er hielt ihr Handgelenk fest umklammert. Die Nonne riskierte einen Blick aus den Augenwinkeln und sah, dass die andere Hand des Tscherkessen am Griff seines Dolches lag.
»Wenn der Jude kommt und auf mich schießt, ersteche ich dich«, sagte Daniel-Beg. »Du bist nicht schuld, ich bin nicht schuld. Schicksal.«
»Und warum mich, warum nicht ihn?«, fragte sie, genauso logisch wie unchristlich.
»Ich bin alt, aber er ist jung und gewandt. Ich schaffe es nicht, ihn zu erstechen«, antwortete der Beg betrübt.
Damit war das Gespräch beendet,
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