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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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unterirdische Grotten zu betreten.
    »Darf ich mitkommen? Bitte!«
    Immanuel sah zum Mond auf, der genau in der Mitte des Himmels stand.
    »Wenn du mi‘ ve’sp’ichst, dass du bald gehst und d’außen nicht auf mich wa’test.«
    Pelagia nickte, und er reichte ihr die Hand.
    Der Einstieg war zunächst sehr eng, und die Stufen, die sie unter ihren Füßen spürte, waren teilweise vom Alter zerbröckelt, aber ohne Zeichen von Abnutzung. Doch wer hätte sie auch abnutzen sollen?
    Als sie am Ende der Treppe angekommen waren, hob Immanuel die Hand mit der Lappenfackel in die Höhe, und man sah, dass sie sich in einer ziemlich geräumigen Gruft befanden. In den Wänden um sie herum gähnten dunkle Nischen, deren Inhalt man allerdings bei dem trüben Licht nicht erkennen konnte. Der Prophet wandte sich zu Pelagia und sagte:
    »Jetzt stell deine F’age, und dann geh.«
    Plötzlich bewegten sich seine ohnehin schon sehr hoch sitzenden Brauen noch ein Stück höher, fast bis zum Haaransatz, und er schaute über sie hinweg, als gebe es hinter ihr etwas Interessantes zu sehen.
    Aber Pelagia achtete nicht darauf, sie holte tief Luft, um ihre Aufregung zu bekämpfen, griff sich unwillkürlich an die Schläfe und stellte mit zitternder Stimme ihre Frage.
    Der Krug geht zum Brunnen
    Als der Hantur am Jaffa-Tor anlangte und nach rechts abbog, war Jakow Michailowitsch sofort klar, dass sie die Stadtmauer umfahren wollten. Da konnten sie ihm nicht entwischen, er hatte also Zeit, rasch ein Telegramm nach Petersburg zu expedieren. Seit über einer Woche hatte er sich nicht mehr gemeldet, das war nicht gut. Gerade eben war er an einem Telegrafenamt vorbeigekommen, das rund um die Uhr geöffnet hatte, da war es ihm wieder eingefallen.
    Jakow Michailowitsch vollbrachte ein wahres Wunder an Fixigkeit. Innerhalb von zwei Minuten war die vorbereitete Depesche durch das Fenster geschoben und bezahlt.
    Das Telegramm hatte folgenden Inhalt: »Bekomme heute zwei Ladungen. Nifontow.« Nifontow – das war die vereinbarte Unterschrift, solange der Auftrag noch nicht erledigt war. Sobald die Arbeit getan war, konnte man in das Telegramm reinschreiben, was einem grad einfiel, bloß die Unterschrift musste dann immer »Xenofontow« lauten. Der, der’s verstehen sollte, verstand.
    Jakow Michailowitsch (zurzeit noch im Status eines Nifontow) hatte alles tadellos erledigt: Er hatte seinen Bericht abgeschickt und anschließend den Hantur eingeholt – und zwar in der Nähe einer Schlucht mit Namen Gehenna, jenem Ort, wo nach dem Bericht des heiligen Apostels der »Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht erlischt«. In diese Schlucht pflegten die Bewohner des alten Jerusalem die Leichen der Hingerichteten zu werfen und anschließend ihren Unrat über ihnen abzuladen, und damit von dieser Müllgrube aus keine Seuchen auf die Stadt Übergriffen, ließen sie dort Tag und Nacht Feuer brennen.
    So ist es, das ganze menschliche Leben, seufzte Jakow Michailowitsch und trieb sein Pferd an. Wir leben in einer Jauchegrube und besudeln unsere Mitmenschen, und wenn du verreckst, wirst du mit Scheiße zugeschüttet und obendrein in Brand gesetzt, damit du nicht stinkst. Solcherart unerfreuliche Philosophierereien gingen ihm durch den Kopf.
    Es war Vollmond und kaum ein Wölkchen am Himmel zu sehen – ganz vorzüglich, besser konnte es nicht sein. Diese ganze Reise, so langwierig und mühsam sie auch war, stand irgendwie unter einem guten Stern. Er hätte schon gleich zu Beginn in Jerusalem die Spur verlieren können, oder am Berg Megiddo, oder in Sodom, aber Fleiß und Glück hatten ihm jedes Mal wieder aus der Klemme geholfen. Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott, wie Jakow Michailowitsch immer sagte.
    Die Sache ist so gut wie erledigt. Wenn der Rotfuchs den richtigen Riecher gehabt hat (und sie ist ja ein pfiffiges Mädel), dann haben wir – schwupps – heute noch alles in trockenen Tüchern, dann geben wir dem alten Trottel Nifontow den Laufpass und verwandeln uns in den glorreichen Xenofontow.
    Fragt sich nur, was dabei herausspringt – immerhin ein ziemlich kniffliger Auftrag!
    In der Regel erlaubte sich Jakow Michailowitsch nicht, über solche angenehmen Dinge nachzudenken, bevor die Arbeit getan war. Aber diese wunderbare mondhelle Nacht brachte einen in solch schwärmerische Stimmung. Und das Ende stand ja auch unmittelbar bevor, das spürte Jakow Michailowitsch mit jeder Faser seines Leibes und mit allen seinen Sinnen.
    Man hatte ihm fest versprochen,

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