Pelbar 6 Das Lied der Axt
Süden vorarbeitete, fühlte er sich unaussprech-lich einsam. Er sah nun, daß sein Onkel ihm nicht nur ein Gesellschafter, sondern eine Art Fenster gewesen war, durch das er die Gestalt eines Ortes und eines Tages hatte sehen können. Nicht, daß er selbst geistig stumpf gewesen wäre. Er hatte ein scharfes Auge und viele Fähigkeiten, aber er besaß nur in geringem Ma-
ße das überschäumende Entzücken seines Onkels an seiner Umgebung. Mehrmals sah er Wale, verspürte aber nur Empörung, weil Tor so fasziniert von ihnen gewesen war. Einmal fand er sein Boot von Robben umringt, stieß sie gelegentlich sogar mit dem Ruder weg – aber ohne sich an ihren schwellenden, das Wasser aufwühlenden Körpern freuen zu können.
Manchmal sah es so aus, als habe er sich in einem Labyrinth von Inseln verirrt, aber er wußte, wenn er seinen Südkurs beibehielt, würde er mit der Zeit über das Gebiet hinauskommen, wo es die großen Eiswände gab. Einmal fuhr er an einer winzigen Siedlung vorbei, hielt sich aber fern, und als ein Boot vom Ufer ablegte, hob er ohne anzuhalten sein Ruder zum Gruß.
Der Sommer ging dem Ende zu, als er schließlich auf die dunkle, feuchte Schönheit dieser Landschaft mit ihren nebelverhangenen, ins Wasser abstürzenden, dicht mit hohen Bäumen bewachsenen Bergen, mit den kleinen Buchten und aufragenden Inseln und auf die großen Säugetiere des Ozeans, die aufstiegen, bliesen und wieder untertauchten, zu reagieren begann. Seelöwen saßen auf den Felsen in Gruppen, die aus der Entfernung so dick wie Hände voll Bohnen-schoten wirkten, und darüber füllten Trauben von Möwen die Luft und düngten die Kuppen der großen Felsblöcke. Oft lauerten die Haie mit ihren hochste-henden Flossen ein Stück vor der Küste auf Seehunde und Seelöwen.
Aus irgendeinem Grunde hatte Tristal keine Angst vor ihnen. Nuchatt hatte gesagt, er habe ihre Augen auf Tors Boot geschnitzt, damit die Haie ihn als ihren Bruder erkannten, aber Tristal wußte, daß das nur ei-ne hübsche Tradition war. Doch nach einiger Zeit dachte er allmählich selbst so.
Schließlich merkte er, daß die Durchfahrten, in denen er sich befand, schmäler wurden und keinen richtigen Zugang zur offenen See mehr hatten. Als er das Boot endlich so weit südlich auf den Strand setzte, wie er fahren konnte, wurden die Pappelblätter schon gelb und die Abendluft kühl. Wenn die Luft klar war, konnte er weit im Osten einen gewaltigen, schneebedeckten Kegel sehen, aber trotzdem war er sicher, daß er sich südlich der großen Eismassen befand. Er beschloß, sich nach Osten zu wenden.
Am nächsten Morgen wurde er von fernem Hundegebell geweckt. Er stand auf und wollte weglaufen, aber die Tiere näherten sich. Er zählte neun, sie kamen direkt auf ihn zu. Die ersten drei erschoß er schnell mit Pfeilen, dann zog er Tors Axt aus der Scheide und tötete vier weitere, die gemeinsam auf ihn zustürzten. Die beiden anderen hielten sich bellend und heulend in einiger Entfernung. Tristal hörte noch mehr kommen, dann sah er sie und die Männer dahinter, die mit Bogen und Speeren bewaffnet waren. Tristal begann wieder nach Süden zu laufen, aber schließlich zwang ihn die Hundemeute, auf einen Baum zu klettern.
Endlich rannten die Männer keuchend heran und umstellten den Baum. »He, du da oben! Hunde hast du jetzt jedenfalls genug getötet. Nicht sehr freundlich, das. Du kannst es dir aussuchen. Entweder wirfst du die Waffen herunter und kommst selbst nach, oder wir schießen dich aus dem Baum und lassen dich von den Hunden fressen.«
Tristal warf seinen Bogen und die beiden restlichen Pfeile herunter.
»Die Axt auch.«
Tristal warf sie hinterher, er fühlte sich irgendwie leer dabei.
»Jetzt du! Steig herunter!«
Tristal kletterte herunter, er fühlte sich völlig erschöpft und nutzlos. War er nun so weit gekommen, um sich töten oder versklaven zu lassen?
Er stand in einem Kreis von Männern und Hunden, während ein Mann ihm die Hände hinter dem Rük-ken fesselte und die Hunde mit Schlägen zurücktrieb.
Ein zweiter durchsuchte seine Sachen und betrachtete stirnrunzelnd das Klappmesser, ohne zu begreifen, was es war.
»Wer bist du?« fragte ein alter Mann.
»Ich heiße Tristal. Ich bin ein Shumai und komme von weit aus dem Osten.«
»Wo sind die anderen?«
»Ich bin allein. Ganz allein.«
»Was willst du hier?«
»Ich versuche, nach Hause zu kommen. Ich will nur nach Hause.«
Die Männer lachten. Dann sagte einer: »Na, das kannst du dir
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