Pelbar 6 Das Lied der Axt
brach und am Seil über einer schmalen Spalte hing, die so tief war, daß er wegen der Eisvorsprünge auf dem Weg nach unten den Boden nicht sehen konnte. Wenn er nach oben schaute, sah er nichts als die vorstehende Eiskante am Rand des Abgrunds. Er war nicht in Gefahr, saß aber in der Falle. Er spürte ein leichtes Ziehen am Seil. Was immer Tor gerade tat, es nützte nichts. Er konnte sich vorstellen, wie sein Onkel den Schlitten und sich selbst irgendwie auf dem steilen Abhang über der Wand hielt. Einen Viertelmorgen schien er da zu hängen, gelegentlich rief er, erhielt aber keine Antwort. Einmal glaubte er, Raran schwach bellen zu hö-
ren, aber dann brach es ab.
Mehr Zeit verging. Tristal schaute sich in wachsender Resignation um. Durch die Bewegungslosigkeit war der Schweiß, von dem er durch die Anstrengung des Marsches bedeckt gewesen war, abgekühlt, und nun begann er vor Kälte zu zittern. Er glaubte, dumpfes Hämmern über sich zu hören, systematisch und anhaltend, aber dann meinte er wieder, es sei sein eigener Puls. Nein. Da wurde gehackt.
Schließlich hörte es auf, und Tristals Abgeschie-denheit machte sich verstärkt bemerkbar. Immer wieder rief er, hörte aber keine Antwort. Er befand sich in einer Welt aus gewölbtem Eis, bis auf einen kleinen Flecken Himmel, den er zwischen den nach innen gebogenen Rändern der Spalte sehen konnte.
Er merkte, daß er einem größeren Entsetzen nachgab, als er es je empfunden hatte, obwohl er sich mit dem Tod abgefunden hatte.
Das Hacken begann wieder, diesmal lauter. Verstreute Eisbrocken begannen, an ihm vorbeizurieseln, als er dann nach oben schaute, sah er größere Stücke von dort, wo das Seil verschwand, herunterrollen.
Plötzlich bewegte sich das Seil, er fiel mehrere Spannen weit und schrie vor Angst auf. Rings um ihn stürzte Eis herab. Durch den Druck des Seils um seine Schultern wurde seinen Armen allmählich das Blut abgeschnürt. Seine Hände waren trotz der Pelzfäustlinge erstarrt.
Er hörte Tor rufen. Was sagte er? »Schaukeln?« Wie konnte er das? Er war zu verschreckt, um sich zu bewegen. »Schaukle, Tris!« sagte die Stimme wieder. Er biß die Zähne zusammen, versuchte es und merkte, daß er es konnte und Schwung bekam. Dann auf dem Weg nach oben spürte er, wie sich das Seil hob. Er schaukelte wieder, kam höher, wurde jetzt schneller, schwang mit größerer Kraft, rutschte ein wenig, wurde wieder schneller, näherte sich schließlich der Ker-be im Rand der Spalte über sich, verlor an Schwung, hing wieder, hörte von neuem die Axt, jetzt laut, immer noch systematisch, hielt das Gesicht von den fliegenden Brocken abgewandt, öffnete dann in einer Pause die Augen und sah Tors grimmig entschlossenes Gesicht über sich.
»Triff nicht das Seil«, rief er.
»Ich gebe mir Mühe«, keuchte Tor. »Wie geht es dir?«
»Ich friere.«
Ein großer Eisbrocken löste sich, streifte Tristal und gab eine Lücke frei, durch die er Tor oben sehen konnte, der hatte ein zweites Seil um sich geschlungen, das oben über den Rand des Hangs verschwand.
Von ganz oben spähte Raran winselnd zu ihnen herunter. Tristal war zu ausgekühlt, um mithelfen zu können, deshalb mußte Tor ihn allein den Abhang hinaufziehen, dabei stemmte er sich gegen die Stufen, die er ins Eis gehackt hatte. Endlich konnte Tristal einen Fuß auf die unterste Stufe stellen und begann, hinaufzukriechen, seine Hände waren nicht zu gebrauchen, statt dessen benützte er die Ellbogen. Er kam hinauf und blieb hechelnd liegen.
Tor begann routiniert das Seil aufzuwickeln und sich zum Weitergehen fertigzumachen, die jüngste Anstrengung ließ ihn ein wenig taumeln. Tristal sah ihn mit wachsender Verärgerung an.
»Wie kannst du das tun? Bedeutet das alles gar nichts für dich?«
»Wenn du dich nicht bewegst, kannst du erfrieren.«
»Warum bin ich hierhergekommen? Was habe ich hier verloren? Du. Du bist ein falscher Führer, wenn es je einen gegeben hat.«
Tor schaute ihn überrascht an, sagte aber nichts.
»Von allen verrückten Dingen – freiwillig an einen Ort zu gehen, wo niemand, nicht einmal ein Tier, jemals leben könnte. Nur um zu sterben. Wir werden sterben, weißt du das? Und Raran mit uns. Schau! Du hast keine Ahnung, wie weit das alles nach Westen reicht. Wir könnten in den nächsten zwei Sonnenbreiten wieder in eine solche Spalte fallen. Das wäre das Ende. Und wofür? Ich könnte zu Hause sein«, sagte er verbittert und zornig.
»Zu Hause?«
»Bei den Pelbar! Bei
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