Pendergast 04 - Ritual - Höhle des Schreckens
Laufe der Jahre hatten die Bürger der Stadt sich an einige Illusionen gewöhnt, die sie zwar ruhiger schlafen ließen, im Grunde aber frommer Selbstbetrug waren: das herzliche Einvernehmen zwischen Stadt und Kirche, den Glauben an die heile Pfadfinderwelt ihrer Kinder und die trügerische Hoffnung, das goldene Zeitalter der amerikanischen Farmer sei gerade erst angebrochen. Lieb gewordene Überzeugungen, die der
Courier
eifrig nährte, indem er nur erfreuliche oder allenfalls belanglose Neuigkeiten brachte, um Himmels willen kein Wort über die verbotenen nächtlichen Autorennen und Alkoholexzesse der Jugendlichen, geschweige denn über ausgewachsene Straftaten, bei denen sie erwischt worden waren. Und wenn ihre Zeitung den mangelhaften Arbeitsschutz in den Gro-Bain-Betrieben, die Zahl der gesundheitlich ruinierten Arbeiter und die Auseinandersetzungen mit der Gewerkschaft herunterspielte, nahmen sie solche Schönfärberei dankbar für bare Münze. Und weshalb? Weil sie im Laufe der Zeit verlernt hatten, dass eine Zeitung informieren und nicht etwa Missstände schönreden soll.
Nun gut, bis gestern war das so gewesen, aber seit gestern war alles anders geworden. Gestern war Ludwigs
Courier
eine richtige Zeitung geworden – eine, die die Wahrheit schrieb. Wobei freilich noch abzuwarten war, wie die Leser darauf reagieren würden.
Er rückte nervös die Fliege zurecht, die er zur Feier des Tages trug. In all den dreiunddreißig Jahren hatte er nie bei dem Wohltätigkeitsfest mit dem gemeinsamen Truthahnessen gefehlt, aber in diesem Jahr wäre er am liebsten im letzten Moment wieder umgekehrt. Es war einer der Augenblicke, in denen ihm seine verstorbene Frau Sarah am meisten fehlte. Mit ihr am Arm wäre alles viel leichter gewesen.
Reiß dich zusammen, Smitty!, ermahnte er sich und stieß die Tür auf.
Der Gemeindesaal war brechend voll, praktisch die ganze Stadt hatte sich versammelt. Einige Anwesende hatten schon Platz genommen und ließen es sich schmecken, andere waren noch dabei, sich am Buffet Kartoffelbrei und grüne Bohnen auf den Teller zu laden, wieder andere standen noch in kleinen Gruppen beisammen und plauderten. Lauter seit Jahren vertraute Gesichter, und genau das gehörte zu den Begleiterscheinungen, die das Leben in einer amerikanischen Kleinstadt so angenehm machen. Nur, machte sich Ludwig klar, Gro-Bain-Arbeiter waren auch dieses Jahr nicht darunter. Auch etwas, worüber in Medicine Creek niemand sprach.
Auf einem großen Spruchband an der Wand wurde Art Ridder, dem Geschäftsführer von Gro-Bain, für die großzügige Spende jener Truthähne gedankt, ohne die diese Wohltätigkeitsveranstaltung nicht denkbar gewesen wäre. Auf einem zweiten, an der gegenüberliegenden Wand angebrachten Banner dankte die Kirchengemeinde der Buswell Agricon für die jährlichen Zuwendungen, dank deren dringende Renovierungsarbeiten in und an der Kirche möglich wurden. Und auf einem dritten Spruchband, dem größten von allen, drückte die Gemeinde ihre Freude darüber aus, dass man den einstimmig zum Ehrengast des Jahres gewählten Professor Stanton Chauncy bald persönlich begrüßen dürfe.
Als Ludwig den Blick durch den großen, von quirligem Leben erfüllten Raum schweifen ließ, entdeckte er auf der anderenSeite des Saales Art Ridder, die an eine wandelnde Teigmasse erinnernde Gestalt in einen weiß und kastanienfarben gestreiften Anzug gezwängt und das stereotype Lächeln um die Lippen, das er angesichts größerer Menschenansammlungen automatisch anknipste. Er schien sich durch die Menge zu bewegen, ohne einen einzigen Schritt zu tun – ein Phänomen, für das Ludwig nur die Erklärung fand, dass jemand wie Ridder nicht auf andere zugehen musste, weil die Leute ohnehin seine Nähe suchten. Vielleicht lockte sie der unterschwellige Blutgeruch an, den Ridder auch durch reichliches Versprühen von Eau de Toilette nicht loswurde, vielleicht lag das Bedürfnis nach Tuchfühlung auch nur darin begründet, dass er der reichste Mann der Stadt war. Er hatte bei Gro-Bain die Palette landwirtschaftlicher Produkte um die Aufzucht der heute so begehrten Truthähne erweitert, und zwar, wie er bei jeder Gelegenheit betonte, auf eigene Kosten. Finanziell hätte er es schon lange nicht mehr nötig gehabt, bei Gro-Bain als Manager zu agieren, zumal ihm, wenn er sich zur Ruhe setzte, eine ansehnliche Abfindung winkte. Aber als Chef der Gro-Bain Agricultural Products war ihm nahezu automatisch ein Platz im Gemeinderat
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