Pendergast 07 - Maniac - Fluch der Vergangenheit
den Schreien der Verdammten, die in die Hölle hinabstürzten.
60
Constance wurde von einem diskreten Klopfen an ihrer Schlafzimmertür geweckt. Ohne die Augen zu öffnen, drehte sie sich aufseufzend um und kuschelte sich sanft in ihr Daunenkissen. Wieder ertönte das Klopfen, jetzt ein wenig lauter. »Con stance? Constance, geht’s Ihnen gut?« Die Stimme von Wren – schrill, besorgt.
Constance streckte sich wohlig, dann setzte sie sich im Bett auf. »Ja doch, mir geht’s gut«, antwortete sie leicht gereizt.
»Ist irgendetwas?«
»Es ist nichts, danke.«
»Sie sind doch nicht krank?«
»Ganz bestimmt nicht. Mir geht’s prima.«
»Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie störe. Es ist nur … ich habe noch nie erlebt, dass Sie den ganzen Tag im Bett bleiben. Es ist halb neun, die Abendbrotszeit ist schon vorbei, und Sie liegen noch immer im Bett.«
»Ja.« Das war alles, was Constance ihm antwortete.
»Möchten Sie Ihr übliches Frühstück? Grünen Tee und eine Scheibe gebutterten Toast?«
»Nicht das übliche Frühstück, danke, Wren. Wenn es Ihnen möglich ist, hätte ich gern Spiegeleier, Cranberrysaft, Würstchen, ein halbes Dutzend Scheiben Frühstücksspeck, eine halbe Grapefruit und einen Scone mit einem Töpfchen Marme lade, bitte.«
»Ich … selbstverständlich.« Sie hörte, wie Wren geräuschvoll den Flur zurück in Richtung Treppe eilte.
Constance lehnte den Kopf zurück ins Kissen und schloss wieder die Augen. Sie hatte lange, tief und völlig traumlos geschlafen – höchst ungewöhnlich für sie. Sie erinnerte sich an das unergründliche Smaragdgrün des Absinths, das merkwürdige Gefühl der Leichtigkeit, das er ihr geschenkt hatte – als beobachte sie sich selbst aus der Ferne. Über Constances Gesicht huschte ein verstohlenes Lächeln, verschwand, kehrte zurück, als sei es von irgendeiner Erinnerung veranlasst. Sie legte den Kopf tiefer ins Kissen und entspannte ihre Beine unter der weichen Daunendecke.
Allmählich, sehr allmählich nahm sie etwas wahr. Da war ein Duft im Zimmer, ein ungewöhnlicher Duft.
Sie setzte sich auf. Es war nicht der Duft von – von ihm; sondern etwas, das sie, wie sie glaubte, noch nie gerochen hatte. Es war eigentlich nicht unangenehm … nur anders.
Sie blickte sich kurz um und versuchte die Quelle aufzuspüren, sah auf dem Nachttisch nach, ohne Ergebnis.
Schließlich kam ihr eine Idee, und sie schob ihre Hand unter das Kissen.
Dort fand sie etwas: einen Briefumschlag und ein langes Kästchen, eingeschlagen in altertümliches Papier und mit einer Schleife aus schwarzem Kordelband versehen. Diese Dinge waren die Quelle des Geruchs, eines moschusartigen Duftes, der an tiefe Wälder erinnerte. Rasch zog sie beides unter dem Kissen hervor.
Das Kuvert war aus cremefarbenem Büttenpapier, das Kästchen gerade groß genug, ein Brillantarmband oder vielleicht eine Halskette zu enthalten. Constance lächelte, dann errötete sie tief.
Begierig öffnete sie den Umschlag. Drei in eleganter Schrift eng beschriebene Seiten fielen heraus. Constance begann zu lesen.
Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen, meine liebste Constance – den süßen Schlaf der Unschuldigen.
Es kann gut sein, dass es für eine Zeitlang Ihr letzter Schlaf von solcher Güte gewesen ist. Gleichwohl – wenn Sie den Rat in diesem Brief beherzigen, dann mag der Schlaf zurückkehren, und zwar sehr bald.
Während ich diese angenehmen Stunden mit Ihnen vertrödelte, ging mir, wie ich zugeben muss, eine Frage nicht aus dem Sinn. Wie ist es wohl gewesen, all diese Jahre mit Onkel Antoine unter einem Dach zu leben, jenem Mann, den Sie Enoch Leng nannten und der Ihre Schwester Mary Greene brutal ermordete?
Haben Sie das gewusst, Constance? Dass Antoine Ihre Schwester ermordet und seziert hat? Bestimmt. Vielleicht war es zuerst nur eine Vermutung, ein merkwürdiger Anflug düsterer Fantasie. Zweifellos haben Sie diese Vermutung Ihrer eigenen krankhaften seelischen Verfassung zugeschrieben. Aber im Laufe der Zeit – und Sie beide hatten ja sehr viel Zeit – muss es Ihnen zuerst wie eine Möglichkeit und dann wie eine Gewissheit erschienen sein. Doch zweifellos war dies alles unbewusst, so tief in Ihrem Innern begraben, dass es beinahe unauffindbar war. Und dennoch wussten Sie es. Natürlich wussten Sie es.
Welch köstlich paradoxe Situation. Dieser Mann, Antoine Pendergast, hat Ihre Schwester getötet, um sein eigenes Leben zu verlängern … und letztlich auch das Ihre! Dies ist der Mann, dem
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