Pendergast 12 - Fear - Grab des Schreckens
breitete die Arme aus. »Ich warte.«
Ein langes Schweigen folgte, und dann sprach er fast fröhlich weiter. »Jetzt, wo der Bund verschwunden ist, bin ich frei. Ich bin erst fünfzehn und habe noch ein langes und produktives Leben vor mir. Die Welt liegt mir, wie man so sagt, zu Füßen – und ich verspreche dir, es wird ein interessanterer Ort sein, wenn ich mich frei darin bewege.«
Und damit sprang er behende von dem Felsen in das seichte Wasser.
Pendergast folgte ihm mit seiner Waffe. Blut tropfte langsam von den Fingern seiner linken Hand, während er zusah, wie Alban an den Strand watete und ihn entlangschlenderte. Pendergast blieb stehen, die Waffe noch immer auf seinen Sohn gerichtet, während der ohne Eile weiter zum grasbewachsenen Uferrand ging, die flache Böschung hinaufstieg, in ein Grasfeld schlenderte und schließlich mit der schwarzen Mauer aus Bäumen am Waldrand verschmolz. Erst jetzt senkte Pendergast ganz langsam seine Waffe mit zitternder Hand.
85
E s war Heiligabend im Mount Mercy Hospital. Eine kleine Douglasfichte stand frisch geschlagen im Wartebereich nahe der Station des Sicherheitsdienstes, der Plastikschmuck an ihren Ästen war mit diskreten Gummibändern befestigt. Tief im Inneren des Krankenhauses war das leise Singen von Weihnachtsliedern zu hören. Ansonsten war die riesige und verwinkelte Villa in nostalgische Stille gehüllt. Die Insassen, die Mörder, Giftmischer, Vergewaltiger, Brandstifter, Vivisektoren und Soziopathen, saßen versunken da, träumten von vergangenen Weihnachtsfesten und davon, was sie von anderen Menschen bekommen und – in der Mehrzahl der Fälle – was sie ihnen zugefügt hatten.
Dr. John Felder ging über einen der Flure tief im Mount Mercy, Dr. Ostrom an seiner Seite. In den vergangenen Wochen waren seine gebrochenen Rippen weitestgehend verheilt, und die Gehirnerschütterung, die er erlitten hatte, war zurückgegangen. Nur eine Narbe – die einzige äußere Narbe – war von seinen Qualen im Wintour-Haus zurückgeblieben: die Schnittwunde an der Schläfe, inzwischen eine hellrote, gezackte Linie.
Ostrom schüttelte den Kopf. »Was für ein seltsamer Fall. Ich finde nach wie vor, dass wir noch kaum an der Oberfläche gekratzt haben.«
Felder erwiderte nichts darauf.
Ostrom blieb vor einer doppelflügeligen Tür stehen, die wie die meisten im Mount Mercy nicht beschriftet war. Davor stand ein einzelner Wachmann.
»Hier ist es?«, fragte Felder.
»Ja. Wenn Sie irgendetwas benötigen, rufen Sie nach dem Sicherheitsdienst.«
Felder streckte die Hand aus. »Vielen Dank, Doktor.«
»Gern geschehen.« Ostrom drehte sich um und ging den Gang zurück.
Felder nickte dem Wachmann zu und atmete durch. Dann schob er die Tür auf und betrat den Raum.
Es handelte sich um die Kapelle des Mount Mercy. Ein Überbleibsel aus der Zeit, als die Klinik Superreichen als Sanatorium diente. Felder, der die Kapelle noch nie gesehen hatte, staunte nicht schlecht. Sie war seit ihrem Zenit im 19. Jahrhundert unverändert geblieben, als die zahlreichen Schenkungen der ängstlichen, kränklichen Patienten die Erbauer der Kapelle mit Betriebsmitteln versorgt hatten, um die ein Medici sie beneidet hätte. Es war ein Meisterwerk in Miniatur, ein Schmuckkästchen und absolut vollkommen, das Mittelschiff nur sechs Reihen tief mit einem Mittelgang, und doch hatten die Erbauer geschickt die Kreuzrippengewölbe einer gotischen Kathedrale neu erschaffen und überdies sowohl die Seitenwände als auch den Chorumgang mit zarten, lebendig kolorierten Kirchenglasfenstern versehen. Im spätnachmittäglichen Licht schien das Innere der Kapelle geradezu in Farben zu schwelgen; das Kirchengestühl, die schlanken Säulen, die anderen architektonischen Merkmale waren derart gesprenkelt und von Licht bemalt, dass sie fast nicht voneinander zu unterscheiden waren. Zögernd trat Felder einen Schritt vor, dann noch einen. Es war, es befinde man sich in einem kirchlichen Kaleidoskop.
Mit langen Schritten ging er an den Reihen des Gestühls entlang und blickte dabei nach rechts und links. Alles war still – niemand da. Dann aber, als er sich dem Altarbereich näherte, bemerkte er zur Linken einen kleinen Seitenaltar. Dort saß auf einer einzelnen Bank Constance Greene. Sie blieb regungslos, eingehüllt vom gescheckten Zwielicht, und es dauerte eine Minute, bis er sie erkannte. Er wandte sich um und ging zu ihr. Sie hatte sich leicht vorgebeugt, versunken in das Buch, das sie in beiden Händen
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