Pendergast 12 - Fear - Grab des Schreckens
können wir den Vorgang einleiten, Ihre Freilassung zu erreichen.«
Constance zögerte. »Ich …« Sie unterbrach sich, weil sie untypischerweise nicht weiterzuwissen schien.
Felder hatte gebrütet, geplant, geträumt von diesem Augenblick. Jetzt aber, da der Moment tatsächlich gekommen war, schien ihn das ebenso sehr zu überraschen wie Constance. »Ich bin ein schrecklich großes Risiko eingegangen, um die Locke zu bekommen.« Er fasste an seine Narbe. »Das ist noch das Geringste.«
Er ließ das sacken.
»Ich musste es wissen. Natürlich ist es nicht Ihre Schuld, aber jetzt, wo es erledigt ist, sollen Sie wissen, dass ich es wieder tun würde. Ich würde für Sie durchs Feuer gehen, Constance. Nein – nein, lassen Sie mich bitte aussprechen. Ich würde es tun wegen … meiner Gefühle für Sie. Nicht nur, weil ich Ihnen unrecht getan habe, indem ich Sie hierherbrachte, sondern wegen der Gefühle, die ich Ihnen entgegenbringe. Ich möchte das Unrecht wiedergutmachen und Sie hier rausholen, weil es meine Hoffnung ist, dass Sie mich – indem ich Sie freibekomme, indem ich uns auf eine gleichberechtigte Stufe stelle – mit der Zeit nicht als Ihren Arzt betrachten, sondern als … als …« Er zögerte, verwirrter denn je. »Und natürlich muss ich mich an diesem Punkt wegen der Berufsethik als Ihr Arzt zurückziehen … wenn Sie aber natürlich …«
Schließlich verstummte er überwältigt, und dann streckte er zögernd den Arm aus und ergriff ihre Hand. Mit bangem Gefühl schaute er auf und traf ihren Blick. Dieser Blick reichte. Wieder senkte er den Kopf, und als er ihre Hand freigab, war ihm übel.
»Doktor«, sagte Constance sanft. »John, ich bin gerührt – ich bin es wirklich, zutiefst. Ihr Glauben an mich bedeutet mir mehr, als ich in Worte fassen kann. Aber die Wahrheit ist, dass ich die Gefühle, die Sie mir offenbar entgegenbringen, niemals erwidern kann – weil mein Herz einem anderen gehört.«
Felder schaute nicht auf. Während Constance sprach, war ihre Stimme zunehmend leiser und besorgt geworden, bis die letzten Wörter kaum noch hörbar waren.
Er dachte zurück an jenen Tag in der Bibliothek des Mount Mercy, als Constance erstmals die Existenz der Locke erwähnt hatte. Da hatte sie angedeutet: Wenn er die Locke finden, sie ans Licht bringen, mehr tun würde, als sie einfach nur zu rehabilitieren, dann wäre dies ein Liebesbeweis, eine Weise, wie er die Tiefe seiner Gefühle beweisen und die Vergangenheit mit all ihren falschen Schritten und zweifelhaften ärztlichen Beobachtungen auslöschen könnte. Aber jetzt ging ihm auf, dass er sich das alles nur eingebildet hatte, dass sie nichts dergleichen angedeutet hatte. Er hatte seine Hoffnungen auf das projiziert, was sie ihm offeriert hatte, nämlich die Gelegenheit, sich zu vergewissern, wie alt sie tatsächlich war. Und das hatte sie nur getan, weil er es gefordert hatte.
Er spürte, wie Constance seine Hand ergriff. Als er aufblickte, sah er, dass sie ihn anlächelte. Sie hatte sich vollständig erholt, ihr Lächeln drückte die übliche Mischung von kühler Belustigung und wohlwollender Distanz aus.
»Ich kann Ihre Gefühle nicht erwidern, Doktor«, sagte sie und drückte sanft seine Hand. »Aber ich kann etwas anderes tun. Ich kann Ihnen meine Geschichte erzählen. Es ist eine Geschichte, die ich niemandem erzählt habe, zumindest nicht ganz.«
Felder blinzelte. Nur langsam erschloss sich ihm die Bedeutung ihrer Worte.
Sie redete weiter. »Ich fürchte, diese Geschichte muss unter uns bleiben. Sind Sie interessiert?«
»Interessiert?«, wiederholte Felder. »Mein Gott. Natürlich.«
»Gut. Dann betrachten Sie dies als mein Geschenk an Sie.« Constance hielt inne. »Es ist ja schließlich Heiligabend.«
86
S ie saßen ganz still da in der Fülle des gesprenkelten Lichts. Constance schaute über Felders Schulter in den Hauptraum der Kapelle. Die beiden Briefumschläge, der eine alt, der andere neu, lagen zwischen ihnen auf der Kirchenbank.
Constance begann. »Ich wurde in den achtzehnhundertsiebziger Jahren in der Water Street sechzehn in New York City geboren. Höchstwahrscheinlich im Sommer achtzehnhundertdreiundsiebzig. Als ich fünf war, starben meine Eltern an Tuberkulose. Im Jahr achtzehnhundertachtundsiebzig wurde meine Schwester Mary in ein Arbeitshaus gesteckt – die Five Points Mission – und verschwand am Ende. Mein Bruder Joseph starb achtzehnhundertachtzig. So viel wissen Sie. Was Sie vielleicht nicht wissen:
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