Pendergast 12 - Fear - Grab des Schreckens
Sie schenkte ihm ein liebenswertes Lächeln. »Wie Sie wissen, ist die Haushälterin taub. Ich versuche es noch einmal.«
Ein widerwilliges Nicken.
Wieder läutete es zwanzig Mal.
»Miss, ich glaube, das reicht. Gestatten Sie, dass ich mir Ihren Namen notiere.«
Sie wählte noch einmal. Inzwischen runzelte der Doorman die Stirn, und sie sah, dass er sich bereitmachte, die Hand auszustrecken und den Anruf zu unterbrechen.
»Bitte, einen Moment noch«, sagte sie und strahlte ihn wieder an.
Noch während der Doorman die Hand ausstreckte, wurde das Läuten schließlich beantwortet.
»Hallo?«, sagte sie rasch. Die Hand wurde zurückgezogen.
»Darf ich den Grund für diese verdammenswerte Hartnäckigkeit erfahren?«, ertönte eine monotone, fast düstere Stimme.
»Aloysius?«, fragte die Frau.
Schweigen.
»Ich bin’s. Viola. Viola Maskelene.«
Es folgte eine lange Pause. »Warum bist du hier?«
»Ich bin den ganzen weiten Weg aus Rom gekommen, um mit dir zu reden. Es geht um Leben und Tod.«
Keine Reaktion.
»Aloysius, ich flehe dich an … um der Stärke unseres früheren Verhältnisses willen. Bitte.«
Ein langsames, leises Ausatmen. »Dann musst du wohl heraufkommen, nehme ich an.«
Flüsterleise öffnete sich der Fahrstuhl und gab den Blick frei auf einen kleinen Flur mit kastanienbraunem Teppichboden und Wänden aus dunklem, poliertem Holz. Die gegenüberliegende Tür stand offen. Lady Maskelene schritt hindurch und blieb schockiert stehen. Vor ihr stand Pendergast, gekleidet in einen seidenen Morgenmantel mit feinem Paisleymuster. Sein Gesicht war hager, das Haar schlaff. Ohne die Tür zu schließen, wandte er sich wortlos um und ging hinüber zu einem der Ledersofas im Zimmer. Pendergast, der sich normalerweise flott und sparsam bewegte, wirkte träge, so als bewegte er sich unter Wasser.
Lady Maskelene schloss die Tür und ging hinter ihm ins roséfarben gestrichene Zimmer, das spärlich mit einigen uralten, knorrigen Bonsaibäumen geschmückt war. An drei Wänden hingen hier und da impressionistische Gemälde. Die vierte war eine Art Wasserfall, der an einem länglichen Stein aus schwarzem Marmor herabströmte. Pendergast nahm auf dem Sofa Platz, und sie setzte sich neben ihn.
»Aloysius«, sagte sie und nahm seine Hand in ihre, »was passiert ist, bricht mir das Herz. Welch furchtbare, furchtbare Geschichte. Es tut mir so schrecklich leid.«
Er blickte durch sie hindurch.
»Ich kann mir auch nicht ansatzweise vorstellen, wie du dich im Moment fühlen musst«, sagte sie und drückte ihm die Hand. »Doch eines darfst du nicht empfinden: Schuld. Du hast alles getan, was du konntest – ich weiß es. Es stand nicht in deiner Macht, das Geschehene zu verhindern.« Sie hielt inne. »Ich wünschte, ich könnte etwas tun, um dir zu helfen.«
Pendergast befreite seine Hand aus ihrer, schloss die Augen und legte die Fingerspitzen an die Schläfen. Anscheinend strengte es ihn ungeheuer an, sich zu konzentrieren, sich auf den Moment einzulassen. Dann öffnete er die Augen wieder und sah sie an.
»Du sprachst davon, dass ein Menschenleben auf dem Spiel stehe. Wessen?«
»Deines«, entgegnete sie.
Zunächst schien das nicht bei ihm anzukommen. Aber nach ein, zwei Augenblicken sagte er: »Ah.«
Es folgte wieder ein Schweigen. Schließlich ergriff er das Wort. »Vielleicht wärst du so freundlich, mir deine Informationsquelle zu nennen.«
»Laura Hayward hat mich angerufen. Sie hat mir erzählt, was geschehen, was vor sich gegangen ist. Ich habe alles stehen und liegen lassen und bin mit der ersten Maschine aus Rom hierhergeflogen.«
Sie ertrug es kaum, wie stumpfsinnig er sie anschaute – an ihr vorbeischaute. Das entsprach so gar nicht dem höflichen, konzentrierten, differenzierten Pendergast, den sie in ihrer Villa auf Capraia kennengelernt hatte – dem Mann, dessen Zauber sie verfallen war. Ein furchtbarer Zorn stieg in ihrem Herzen auf – auf die Menschen, die ihm das angetan hatten.
Nach kurzem Zögern nahm sie ihn in die Arme. Er versteifte sich, protestierte aber nicht.
»O Aloysius«, flüsterte sie. »Darf ich dir denn nicht helfen?«
Als er immer noch nicht antwortete, sagte sie: »Hör zu. Es ist in Ordnung zu trauern. Es ist gut zu trauern. Aber das – sich hier einzuschließen, sich zu weigern, mit mir zu reden, sich zu weigern, irgendjemanden zu sehen … das ist keine Art, mit der Sache umzugehen.« Sie hielt ihn fest umarmt. »Und du musst damit umgehen, um Helens willen.
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