Pendergast 12 - Fear - Grab des Schreckens
widerwillig. Offenbar hatte er seine erwartungsvolle Neugier verloren.
Proctor musterte die Bücherreihen, fand den gesuchten Titel und zog ihn von der Wand. Mit einem Klicken schwang das gesamte Bücherregal zur Seite, so dass ein Fahrstuhl dahinter zum Vorschein kam.
»Scheiße«, murmelte Tristram auf Deutsch.
Sie betraten den Fahrstuhl, und Proctor drückte den Knopf für das Untergeschoss. Sobald sie dort angekommen waren, ging er voran durch das Gewirr der matt erleuchteten steinernen Gänge voll von Grünspan und Ausblühungen. Er ging mit schnellen Schritten, wodurch er den Jungen davon abhielt, stehen zu bleiben und in eine der Kammern zu blicken, deren Interieur er beunruhigend finden könnte.
»Mein Vater mag mich nicht«, sagte Tristram in unglücklichem Tonfall.
»Er tut nur, was am besten für dich ist«, erwiderte Proctor schroff.
Vor einem kleinen Raum mit einem Tonnengewölbe blieben sie stehen. Er war völlig kahl bis auf einen in eine Wand gemeißelten Wappenschild: ein lidloses Auge über zwei Monden, der eine ein Halbmond, der andere ein Vollmond, mit einem darunter liegenden Löwen – das Familienwappen der Pendergasts. Proctor ging hinüber und drückte beide Hände darauf. Die Steinwand dahinter schwang auf, und zum Vorschein kam eine Wendeltreppe, die steil in die Dunkelheit hinabführte. Tristram bekam große Augen, sagte aber nichts.
Proctor knipste ein Licht an und stieg die Treppe ins zweite Untergeschoss hinab, Tristram folgte. Dort angekommen, gingen sie durch einen kurzen Durchgang, der in einen Raum mit einem Tonnengewölbe führte, der sich so weit das Auge reichte zu erstrecken schien.
»Was ist das für ein Ort?«, fragte Tristram und blickte sich verwundert um.
»Das Gebäude ist früher einmal eine Abtei gewesen«, sagte Proctor. »Ich glaube, die Mönche haben das zweite Untergeschoss als Nekropole genutzt.«
»Nekropole?«
»Ein Friedhof. Wo sie ihre Toten beerdigt haben.«
»Die beerdigen ihre Toten?«
Proctor verkniff sich die Frage, was sie dort, wo Tristram herkam, mit den Toten anstellten.
Er ging voran, vorbei an uralten Laboratorien; vorbei an Räumen voll von Glasflaschen, die reihenweise auf Regalen lagerten; vorbei an Räumen voller Wandteppiche und alter Kunstwerke. Proctor hatte diese schimmeligen unterirdischen Räume noch nie gemocht und ging deshalb schnell. Der Junge folgte ihm und blickte mit großen Augen nach rechts und links. Schließlich führte Proctor ihn durch einen Seitengang in einen kleinen, aber gut eingerichteten Raum mit angeschlossenem Bad. Ein Bett, ein Tisch mit Stühlen, eine Reihe Bücher und eine Kommode mit einem Spiegel darüber. Das Zimmer war sauber und so angenehm, wie es die unterirdische Atmosphäre mit ihren leichten Gerüchen nach Ammoniak und uraltem Verfall zuließ. Es verfügte über eine massive Holztür mit einem kräftigen Schloss.
»Das ist dein Zimmer«, erklärte er Tristram.
Der Junge nickte und schaute sich um. Er schien zufrieden zu sein.
»Kannst du … lesen?«, fragte Proctor mit einem Blick auf die Bücher; der Gedanke war ihm ganz plötzlich gekommen.
»Nur die guten Zwillinge dürfen lesen. Aber ich hab’s mir selber beigebracht. Nur ein bisschen. Aber nur Deutsch.«
»Verstehe. Also, wenn du mich bitte entschuldigen würdest. Ich hole dir ein paar Sachen und bin in einer halben Stunde wieder da.«
»Wie heißen Sie?«
»Proctor.«
Der Junge sah ihn an und lächelte etwas schüchtern. »Danke, Herr Proctor.«
33
A loysius Pendergast brachte den Rolls an der Ecke Bushwick Avenue und Meserole Street in Brooklyn zum Stehen. Hier hatte laut den Unterlagen des Taxiunternehmens das Taxi den flüchtigen Jungen aufgelesen. Es handelte sich um ein altes, weitgehend verlassenes Industrieviertel, das gerade erst den Zustrom kreativer Pioniere erlebte. Aber es waren immer noch wüste Graffiti, mit Brettern vernagelte Gebäude und die leeren Hüllen ausgebrannter Fahrzeuge zu sehen. Das Straßenbild wurde beherrscht von einer Mischung aus Obdachlosen, Hipstern und zweifelhaft aussehenden jungen Männern.
Pendergast fiel auf in seinem schwarzen Anzug, als er aus dem Silver Shadow ausstieg und die Tür hinter sich zuschloss. Die Hände in den Hosentaschen, schlenderte er die Meserole Street entlang. Es war Nachmittag, eine helle, aber nur wenig Wärme spendende Sonne schien auf den Bürgersteig. Mehrere Blocks vor ihm erhob sich ein alter Brauerei-Komplex aus dem 19. Jahrhundert, der fast viertausend
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