Penelope Williamson
die Sonne klein und orangefarben am Horizont. Shay und Emma standen immer
noch am Wasser. Die beiden Gestalten hoben sich schimmernd vor dem Himmel ab,
so wie es manchmal geschieht, wenn die Sonne nach einem Sturm wieder
hervorkommt.
Es war
höchst eigenartig. Sie hörte Shays Stimme, aber sie klang nicht mehr rauh,
sondern wieder so schön wie früher. Und seine
Stimme war in ihrem Blut, war
Teil ihres Wesens, pulsierte kraftvoll und voller Leben und warm durch ihre
Adern.
Sie hörte
ihn so gut, als stehe er neben ihr, und doch wußte sie genau, daß er mit Emma
sprach und zu ihr sagte: Ein Abend wie heute ... es scheint, als halte sich die
Sonne am Rand der Welt fest und der Tag werde nie zu Ende gehen. Und dann
versinkt die Sonne. Sie verliert ihren Halt, und der Tag ist doch zu Ende. Aber
trotzdem nimmt man die Verheißung an ihre Wiederkehr mit in die Nacht ... die
Verheißung und die Erinnerung.
Ja, dachte
Bria, die Erinnerung bleibt lebendig.
Sie öffnete den Mund, um seinen
Namen auszusprechen. Da fühlte sie, wie der Atem aus ihrem Körper strömte, und
sie schien den Atem nicht wieder zurückholen zu können.
Einen
Augenblick lang glaubte sie, es sei dunkel geworden. Doch dann sah sie, daß sie
sich irrte, denn die Sonne schien strahlender als jemals zuvor. Shay kam auf
sie zu. Aber Shay hatte keinen Schatten. Er war ganz Licht und wie in seiner
Jugend. Er strahlte, lachte sie an und fragte: Willst du mit mir tanzen, mo
Chridh?
Sie sank in seine Arme. Sie
tanzten, lachten und liebten sich in der Sonne eines verzauberten Tages.
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Bria McKennas schwarz lackierter Sarg stand auf zwei Hockern
inmitten der Küche mit der verblaßten Tapete und dem alten Linoleumfußboden.
Hinter ihrem Kopf war ein hufeisenförmiges Gebinde aus Wachsblumen in einem
mit Seide bezogenen Rahmen aufgestellt. Zu ihren Füßen brannten hohe Kerzen und
ein Ewiges Licht. Die Flammen flackerten im Luftzug, der durch die offene Tür
hereindrang. Es war eine dunstige Sommernacht.
Die Postkarte der Heiligen
Maria, die an der Schlafzimmerwand gehangen hatte, lag auf Brias Brust. Sie
hielt den Rosenkranz mit den braunen Holzperlen in den Händen, als bete sie.
Alle
sagten, sie sehe wunderschön aus.
Shay stand
im schwarzen Tuchanzug neben dem Sarg. Er schüttelte die Hände der Männer, ließ
sich von den Frauen auf die Wange küssen, die kamen, um ihr Beileid
auszusprechen, und gab ihnen Sterbebilder mit Gebeten für den Frieden von Brias
Seele. Aus seinem Mund kamen leise Dankesworte, doch seine Augen waren zwei
glatte leblose Steine.
Seine
Töchter saßen auf Stühlen neben ihm und hielten die Hände in den violetten
Trauerkleider gefaltet. Noreen antwortete jedem, der sie ansprach, mit
höflicher, leiser Stimme. Merry blieb stumm; sie summte nicht einmal. Doch von
Zeit zu Zeit holte sie mit einem solchen Erschauern Luft, daß das Medaillon an
ihrem Hals hüpfte. Brias Sohn, der sich nie an sie erinnern würde, schlief in
seiner Wiege am Herd.
Bevor Brias Nachbarn und die
Arbeitskolleginnen aus der Fabrik zu ihren Beileidsbesuchen kamen, war es in
der Küche so still gewesen, daß Emma die Wassertropfen gehört hatte, die aus
der Eiskiste in die darunter stehende
Auffangschale fielen. Sie hatte den Mädchen geholfen, schwarzes Kreppapier
über den Türrahmen zu hängen. Alles blieb still. Sie hatte nur das Schreien der
Möwen im Hafen und das Heulen einer Pfeifboje in der nebelverhangenen Bucht
gehört.
Sie hatte
überall in der Küche Dosen mit Wiesenblumen verteilt und Tee und Kaffee
gemacht, Platten mit Käse, Corned Beef und frischem Brot vorbereitet und die
ganze Zeit erwartet, seine Schritte auf dem Vorplatz zu hören. Doch er blieb
draußen am Strand, wo Bria gestorben war.
Sie hatten
geglaubt, Bria schlafe. Sie standen beisammen, betrachteten den
Sonnenuntergang und redeten miteinander. Sie sprachen über nichts
Weltbewegendes, sondern unterhielten sich einfach auf unverkrampfte Weise, die
sich in den letzten Wochen von Brias Krankheit entwickelt hatte.
Sie blieben
dort stehen, bis die Sonne in der kupferfarbenen Bucht versunken war. Dann
drehten sie sich um, weil sie Bria ins Haus tragen wollten, und sahen, daß sie
tot war. Emma erinnerte sich jetzt, daß er geflüstert hatte: »0 Bria, mein
Liebling, du bist gegangen.«
Er kniete
sich neben den Schaukelstuhl, küßte ihre kalten Lippen, nahm sie auf die Arme
und trug sie ins Haus.
Emma blieb
am Strand, bis die Fabriksirene zum
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