Penelope Williamson
hast
recht. Natürlich glaubst du an Gott. Warum wärst du sonst hier? Du bist
bestimmt nicht nur deshalb hier, weil alle anderen auch hierherkommen. Ich
glaube, besser ausgedrückt müßte die Fragen lauten: Wie kannst du so sicher
sein, daß Gott ein Episkopale ist?« Der Wind blies durch die Church Street und
zauste den Efeu, der hinter ihnen die Mauer bedeckte. Sie hörten in der Ferne
Kirchengesänge und helles Glockengeläut. Emma erinnerte sich, daß an diesem
Sonntag im Mai die katholischen Mädchen von St. Mary, in Weiß gekleidet, die
Statue der Heiligen Jungfrau um den Rathausplatz und dann hinunter zum Hafen trugen.
Als Kind hatte sich Emma immer gewünscht, an der Prozession teilzunehmen, aber
das war natürlich unmöglich gewesen.
In diesem
Augenblick begann die große Glocke von St. Michael zu läuten, als wollte sie
nicht zurückstehen. Geoffrey zog an der goldenen Uhrkette, die vor seinem
Bauch hing, und warf einen Blick auf seine Taschenuhr. Dann sah er Emma etwas
zerstreut an und fragte: »Wer soll meiner Meinung nach ein Episkopale sein?«
»Gott.«
»Natürlich
ist Er ein Episkopale!« rief Geoffrey, aber er lächelte dabei.
Die
Prozession kam um die Ecke. Ein sehr gutaussehender junger Priester führte sie
an. Er schwang ein Gefäß mit brennendem Weihrauch und sang mit einem klaren
wohlklingenden Tenor die lateinischen Gesänge. Flankiert wurde er von Nonnen
in schwarzen Ordenstrachten mit gestärkten weißen Hauben. Ihre Röcke schwangen
wie die Glöckchen, die sie im Rhythmus mit dem Gesang des Priesters läuteten.
Langsam
folgten sechs Männer, die wie Sargträger aussahen. Sie trugen auf einem Podest
die Statue der Jungfrau Maria inmitten weißer Lilien und brennender Kerzen.
Emma
gefiel die Statue sehr. Die heilige Maria trug auf dem Kopf einen Kranz aus
winzigen rosaroten Rosenknospen und blauem Vergißmeinnicht. Sie hatte
rosafarbene Lippen, und ihr Lächeln wirkte geheimnisvoll verführerisch. Das
blaue gemalte Gewand war nur am Saum etwas abgestoßen.
Hinter der
Statue gingen Mädchen in weißen Kleidern mit blauen Schärpen. Auch sie hatten
wie die Statue Blumenkränze im Haar. Viele trugen Körbchen mit Blumen, andere
schwangen große grünweiße Fahnen, auf denen Harfen und Kleeblätter zu sehen
waren. Sie sangen: »Oh du heilige Jungfrau Maria, wir hüllen dich heute in
Blumen, denn du bist die Königin der Engel, die Maikönigin ...« Emma nickte in
Richtung der Prozession, denn mit dem Finger zu deuten, wäre ein Verstoß gegen
alle Regeln des Anstands gewesen. »Sie glauben vermutlich, daß Gott Katholik
und Ire ist.«
»Emma!«
Geoffrey schien wirklich schockiert zu sein. Er sah sich betroffen um und
vergewisserte sich, daß niemand ihre Worte gehört hatte. Nachdem Emma
schließlich erreicht hatte, was sie erreichen wollte, war ihr aus einem
unerfindlichen Grund nach Weinen zumute.
»Du machst dich wieder einmal
über mich lustig«, sagte er, aber diesmal lächelte er nicht.
Offenbar verstieß es auch gegen
die Regeln, seinen Verlobten nicht ernst zu nehmen.
Emma blinzelte und wischte sich
die Tränen aus den Augen. Sie hob den Kopf und blickte zum dunkelgrauen Himmel
auf.
»Ich glaube, es wird heute
regnen. Diese dunklen Wolken bedeuten immer schlechtes Wetter.«
Geoffrey
stieß einen Laut aus, der halb wie ein Lachen, halb wie ein Seufzen klang, aber
er wirkte sichtlich erleichtert darüber, daß sie sich wieder auf dem sicheren
Boden der Konventionen befanden. »Das hätte auch meine Großmutter sagen können.
Sie prophezeit immer Regen.«
»Wenn der Himmel klar ist, wird auch wieder die Sonne
scheinen.« Er hörte ihr natürlich nur mit halbem Ohr zu. Das geschah oft, wenn
sie sagte, was man von ihr erwartete und auf gutes Benehmen achtete.
»Da wir
gerade von Großmutter sprechen«, sagte er. »Sie inspiziert wie üblich nach dem
Gottesdienst den Friedhof, um festzustellen, welche Familien die Gräber pflegen
und welche sie vernachlässigen. Und wenn auf Großvaters letzter Ruhestätte auch
nur ein welkes Blatt oder ein vergilbter Grashalm liegen sollte, werde ich beim
Mittagessen schwere Vorwürfe zu hören bekommen.«
Er griff wieder nach ihrem Arm
und führte sie die Stufen hinunter. »Sei so nett und unterhalte dich ein wenig
mit ihr, denn ich möchte kurz mit meinem Bankier sprechen.«
Geoffreys
Großmutter ging in der Tat durch die Reihen der Gräber und Gruften und musterte
sie eingehend durch ein Lorgnon mit Perlmuttrand. Sie stützte sich zwar
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