Pension der Sehnsucht
Ich glaube, ich habe ein Recht auf ein bisschen Privatleben. Mein Arbeitsvertrag schreibt mir nicht vor, dass ich dir vierundzwanzig Stunden am Tag zur Verfügung stehen muss.« Vernichtend fügte sie hinzu: »Ich nehme an, dass Miss Trainor heute Abend bestens für deine Unterhaltung sorgen wird.«
»Ganz bestimmt«, pflichtete er ihr bei. Seine Gelassenheit brachte Nelly aus der Ruhe, und ihr Temperament ging mit ihr durch.
Wütend fauchte sie: »Na, dann ist ja alles in Ordnung. Ich wünsche dir einen vergnügten Abend, Percy. Auch ich werde mich köstlich amüsieren. Und jetzt entschuldige mich bitte, ich habe zu arbeiten.« Sie wollte an ihm vorbeirauschen, doch er hielt sie fest.
»Da wir beide heute Abend anderweitig beschäftigt sind, können wir vielleicht gleich erledigen, was mir auf dem Herzen liegt.«
Er küsste sie so leidenschaftlich, dass sie Angst bekam. Anfangs biss sie die Zähne fest zusammen, doch dann öffneten sich ihre Lippen unter dem Druck seines Mundes. Gerade, als ihr innerer Widerstand schmolz, ließ er sie los.
»Bist du fertig?« fragte sie betont spöttisch. Sie sehnte sich danach, nochmals von ihm geküsst zu werden, und war gleichzeitig wütend auf ihre Empfindungen.
»Nein, Nelly.« Es klang aufreizend zuversichtlich. »Ich bin noch lange nicht fertig.« Eine freche Antwort lag ihr auf der Zunge, doch er ließ sie gar nicht zu Wort kommen. »Ich rate dir jetzt, den Daumen zu verbinden.«
Erzürnt stürzte Nelly aus dem Aufenthaltsraum. Für einen würdevollen Abgang war sie viel zu aufgeregt.
Um diese Tageszeit ging es in der Küche immer ruhig zu. Nelly betrat sie unter dem Vorwand, eine Tasse Kaffee zu trinken.
»Was hast du denn mit deinem Daumen gemacht?« fragte Elsie beiläufig. Sie war damit beschäftigt, Obst auf Tortenböden zu schichten.
»Ach, das ist nur ein Kratzer.« Nelly blickte missbilligend Percys Taschentuch an und steuerte auf die Kaffeemaschine zu.
»Tu dir lieber etwas Jod auf die Wunde.«
»Das brennt bloß.«
Elsie schüttelte nachdenklich den Kopf und wischte sich die Hände an der Schürze ab, ehe sie in dem kleinen Medizinschrank herumstöberte. »Setz dich hin und stell dich nicht so an.«
»Das ist doch weiter nichts. Es blutet nicht mal mehr.« Aber Nelly wusste, dass aller Widerstand vergebens war. Hilflos ließ sie sich auf einen Stuhl fallen und sah zu, wie Elsie ein Fläschchen und Verbandzeug holte. »Mach nicht so viel Wirbel um einen Kratzer. Verflixt noch mal, Elsie! Ich sagte dir doch, dass das ekelhafte Zeug brennt.«
»Na, siehst du.«
Zufrieden lächelnd befestigte Elsie den Verband mit einem Stück Heftpflaster. »Aus den Augen, aus dem Sinn.«
»Das sagst du so.« Nelly stützte das Kinn in die Hand und starrte trübsinnig in die Kaffeetasse.
»Diese Schnüffeltante wollte in meine Küche kommen«, verkündete Elsie naserümpfend.
»Wer? Ach, du meinst Miss Trainor.« Nelly vergaß ihren schmerzenden Daumen und wandte sich neugierig an die Köchin. »Erzähl schon, was ist passiert?«
»Ich habe sie natürlich hinausgeworfen, was dachtest du denn.« Selbstbewusst entfernte sie etwas Mehlstaub von ihrem üppigen Busen.
»Fabelhaft!« Nelly lehnte sich zurück und lachte schallend. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie Elsie die vornehme Eliza aus ihrer Küche komplimentiert hatte. »War sie wütend?«
»Reif für die Zwangsjacke«, erwiderte Elsie vergnügt, und Nelly strahlte. »Du triffst dich heute Abend mit Howard?«
»Ja.« Nelly wunderte sich nicht im Geringsten, dass Elsie im Bilde war. »Ich nehme an, dass wir ins Kino gehen.«
»Warum verschwendest du deine Zeit mit diesem jungen Burschen, wenn Mr. Reynolds hier ist?«
»Na ja, erstens freut sich Betty Jackson, und …« Nelly unterbrach sich. »Was hat Percy … ich meine, Mr. Reynolds denn damit zu tun?«
»Ich verstehe nicht, wieso du mit Howard ausgehst, wenn du in Mr. Reynolds verliebt bist«, erklärte Elsie nüchtern, während sie sich eine Tasse Kaffee einschenkte.
»Das stimmt ja gar nicht«, protestierte Nelly. Sie nahm einen großen Schluck und verbrühte sich Zunge und Gaumen.
»Aber natürlich«, widersprach Elsie und goss sich reichlich Sahne in die Tasse.
»Nein, wirklich nicht.«
»Doch.«
»Von wegen. Das muss ich ja wohl am besten wissen. Wie kommst du eigentlich auf diesen absurden Gedanken?«
»Ich bin fünfzig Jahre alt, und seit vierundzwanzig Jahren kenne ich dich. Das dürfte wohl genügen«, antwortete Elsie
Weitere Kostenlose Bücher