Per Anhalter (German Edition)
sich nicht so ohne weiteres abstellen. Natürlich hatte er nicht zwangsläufig eine Blutvergiftung, weil er vor zwei Minuten in eine Glasscherbe gerannt war, aber das hieß nicht, dass er nicht noch eine bekommen konnte.
Wenn er die Scherbe nicht bald entfernte und die Wunde desinfizierte, dann könnte die Blutvergiftung in nicht ferner Zukunft zur heiklen Realität ausarten.
Es ist trotzdem besser, mit einer Scherbe im Fuß rumzurennen, als weiterhin in diesem Wohnwagen zu hocken , beruhigte er sich selbst. Und das war keineswegs wie die Wahl zwischen Pest und Cholera. Das hier war immer noch um Längen besser.
Er konnte selbst schalten und walten, er war frei.
Sobald er sich diese Scherbe aus dem Fleisch gepuhlt hatte, wollte er weiter gehen, und beim nächsten Anzeichen von Zivilisation Hilfe ersuchen.
Das Baby weinte immer noch! Wenn es doch nur aufhören würde, nur fünf oder zehn Minuten. Er tastete sich wieder mit zwei Fingern an die Scherbe heran, bekam sie zu fassen und zog daran. Doch da war nichts zu machen. Sie steckte so tief drin und verursachte solche Schmerzen, dass er fürchtete, man würde sie wohl nur mit entsprechendem Gerät heraus bekommen. Schon der Gedanke daran, wie man sie mit einer Pinzette heraus zog, war Übelkeit erregend schmerzhaft. Nur wie sonst sollte er jemals dieses Ding heraus bekommen?
Er unternahm einen weiteren Versuch, sie mit den Fingern heraus zu ziehen. Es war eine unglaublich große Scherbe. Ein Stück vom Boden einer Selters- oder Weinflasche. Seine Finger fühlten sich durch das Gemisch aus Blut und Sand unangenehm glitschig an. Wieder biss er die Zähne zusammen und ertrug einige Sekunden lang den gleißenden Schmerz. Wieder vergeblich. Allmählich ergriff ihn wieder der gute alte Freund Panik.
Nicht nur wegen der Schmerzen, sondern auch wegen des schreienden Babys.
Vielleicht war es doch keine so besonders gute Idee gewesen, den tollkühnen Helden zu spielen und das Baby mitzunehmen.
Natürlich war es von der Sache her wirklich klasse, doch das Kind war in vielerlei Hinsicht ein Klotz am Bein.
Außerdem brachte er es durch diese Aktion selbst in Lebensgefahr.
Solange sie das Baby hatten, kümmerten sie sich darum.
Doch wenn sie ihn erwischten, würden sie dem Baby vielleicht auch weh tun, was andernfalls wohl nicht passiert wäre. Was hatte er sich bloß dabei gedacht? Er wusste ja selbst noch nicht einmal, wo er jetzt hin musste. Und nun hatte er auch noch die Verantwortung für das Kind. Das Pech schien ihm förmlich am Arsch zu kleben und er wurde es einfach nicht mehr los. Ein schreiendes Baby, eine Scherbe im Fuß und noch immer in unmittelbarer Reichweite der Wohnwagen. Wenn er noch länger hier sitzen bliebe, würden sie ihn und das Kind bald gefunden haben.
Und das war sein Ende.
Wenn ich nur wenigstens einmal laut Scheiße schreien könnte. Mir irgendwie Luft machen , dachte er. All die Anspannung der letzten Tage - wenn er sie sich wenigstens einmal von der Seele schreien konnte, dann würde er vielleicht zur Abwechslung wieder klar denken können.
Aber faktisch wäre schreien jetzt das verkehrteste dass er tun konnte.
Schlimm genug, dass das Baby sich nicht daran hielt.
Er legte den Fuß auf sein Knie, beugte sich herunter und nahm das kleine Mädchen auf den Arm. Er drückte es an sich und streichelte seinen Rücken. Immerhin das funktionierte wie erhofft. Es beruhigte sich und schlang seine winzigen Ärmchen um seinen Hals.
Als wenn die kleine Maus Schutz sucht , bemerkte David.
Er war gerührt und er spürte, wie ihn ein warmes Kribbeln durchlief. Er fühlte sich mit dem Kind verbunden. Ein irres Gefühl, stärker noch als der höllische Schmerz in seinem Fuß. Stärker als alles andere auf der Welt!
Zum ersten Mal verstand er, was seine Mutter damit meinte wenn sie sagte, dass sie nie einen Menschen auf Erden so sehr würde lieben können wie ihre Kinder. Um ehrlich zu sein hielt er das immer für eine Floskel. Jede Mutter sagte das, aber in Wirklichkeit, dachte er, ist da gar nichts dran. Na, und ob da etwas dran war. Obwohl es nicht einmal sein eigenes Kind war, spürte er eine unbändige Liebe, einen tief verwurzelten Instinkt in sich, das Kind zu beschützen. ´Für meine Kinder würde ich sterben`, hatte seine Mutter einmal gesagt. Er stimmte ihr zu. Er würde für dieses kleine Wesen bis aufs Blut kämpfen um es zu beschützen. Wahnsinn, was so ein kleines Mädchen in einem auslöst , dachte er. Allein diese winzigen Arme,
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